Örtliche Zuständigkeit
Inhaltsverzeichnis
Empfehlungen bei örtlichen Zuständigkeitskonflikten (Art. 444 ZGB)[1]
Problemstellung
In der Praxis führen örtliche Zuständigkeitskonflikte verschiedentlich zu erheblichen Problemen, was sich in zeitlichen Verzögerungen und Blockaden von Verfahren oder Übertragungen von Massnahmen auswirkt. Kann im gesetzlich vorgesehenen Meinungsaustausch (Art. 444 Abs. 3 ZGB) zwischen den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) keine Einigung erzielt werden, so ist der gerichtliche Weg zu bestreiten, der nach Ausschöpfen des innerkantonalen Instanzenzuges[footnotes 1] im Klageverfahren zu lösen ist[footnotes 2]. Solche Verfahren sind langwierig, kostspielig und praktisch nie im Interesse der hilfsbedürftigen Person.
Um langwierige und kostenintensive Gerichtsverfahren möglichst zu vermeiden, schlägt die KOKES nachfolgendes Vorgehen zur einvernehmlichen Lösung von Zuständigkeitskonflikten vor. Ziel muss sein, rasch und mit Blick auf das Wohl des Kindes respektive den Schutz der hilfsbedürftigen Person die Zuständigkeit zu klären, damit die entsprechenden Schutzmassnahmen getroffen oder die Massnahme zur Weiterführung übertragen werden kann. Es ist anzustreben, dass das Verfahren von der Anfrage der KESB A (unzuständige resp. übertragungswillige KESB) bis zum Entscheid der KESB B (zuständige resp. übernehmende KESB) bei neuen Verfahren innert Monatsfrist, bei Übernahmen innert längstens drei Monaten abgewickelt wird. Das Verfahren resp. die Massnahme soll dort geführt werden, wo der Schutz der Person besser gewährleistet werden kann.
Rechtliche Rahmenbedingungen
Grundsatz
Kindes- und erwachsenenschutzrechtliche Verfahren knüpfen grundsätzlich an den [zivilrechtlichen [Wohnsitz]] des Kindes oder der betroffenen erwachsenen Person an. Bei einem Wohnsitzwechsel ist die laufende Massnahme unverzüglich von der Behörde am neuen Ort zu übernehmen, soweit keine wichtigen Gründe (z.B. bevorstehende Aufhebung der Massnahme, Erledigung einzelner Geschäfte, fehlende Stabilität des Aufenthaltsortes) dagegensprechen (Art. 442 Abs. 5 ZGB).
Hierbei wird lediglich der Zeitpunkt für die Übertragung hinausgezögert. Zu beachten ist, dass ein Wechsel der Zuständigkeit nicht zwingend ein Wechsel Beistandsperson bedeuten muss. Im Interesse der Betreuungskontinuität kann der bisherige Mandatsträger oder die Mandatsträgerin beibehalten werden[footnotes 3]. Ist ein Verfahren rechtshängig, so bleibt die Zuständigkeit im innerstaatlichen Verhältnis am bisherigen Ort bis zum Abschluss des Verfahrens erhalten (Art. 442 Abs. 1 ZGB), auch wenn die Person den Wohnsitz wechselt.
Ausnahmen
In Ausnahmefällen bleibt die Anknüpfung der Zuständigkeit an den Aufenthaltsort (Art. 315 Abs. 2 ZGB bzw. Art. 442 Abs. 2 ZGB) oder den Ort der Verwaltung des Vermögens (Art. 442 Abs. 3 ZGB) vorbehalten.
Praxishinweise
Ziel bildet, langwierige Gerichtsverfahren zu vermeiden und einvernehmliche Lösungen zu finden. Für einvernehmliche Lösungen braucht es die Bereitschaft der beteiligten Behörden zum Kompromiss. Bei der Festlegung der örtlichen Zuständigkeit propagiert das Bundesgericht zum Schutz der betroffenen Person eine unformalistische Auslegung der Wohnsitzregeln (BGE 141 III 84 E. 4.6). Ausschlaggebend für die Zuständigkeit sind nicht streng formalistische Argumente, sondern das Interesse der hilfsbedürftigen Person nach geeigneter Unterstützung.
Beim Erwachsenenschutz ist der Zweck der Wohnsitzanknüpfung, die Zuständigkeit der KESB möglichst am Lebensmittelpunkt der betroffenen Person zu begründen. Daher ist in diesem Zusammenhang der Wohnsitzbegriff funktionalisiert resp. zweckbezogen auszulegen[footnotes 4]. Massgebend ist der Ort, wo sich der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen befindet und die innere Absicht des dauernden Verbleibens gegen aussen erkennbar ist[footnotes 5]. Die Absicht, einen Ort später zu verlassen, schliesst eine Wohnsitznahme nicht aus[footnotes 6], die Absicht des dauernden Verbleibens muss nur im Moment der Begründung des Wohnsitzes bestanden haben[footnotes 7].
Im Kindesschutz liegt die Zuständigkeit bei negativen Kompetenzkonflikten gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei der Kindesschutzbehörde grundsätzlich am Wohnsitz des Kindes und nicht bei jener am Aufenthaltsort[footnotes 8].
- Konstanter Aufenthaltsort des Kindes am Ort der Fremdbetreuung, aber häufiger Wohnsitzwechsel des alleine sorgeberechtigten Elternteils:
- Bei einem einzigen Kind –> Aufenthaltszuständigkeit ist im Sinne der Kontinuität zu bevorzugen.
- Alle Kinder sind am gleichen Ort untergebracht –> Aufenthaltszuständigkeit ist im Sinne der Kontinuität zu bevorzugen.
- Kinder sind an verschiedenen Orten untergebracht –> Zivilrechtlicher Wohnsitz ist zu bevorzugen, da im Sinne der Effizienz, Kohärenz und Koordination alle Massnahmen von derselben Behörde und allenfalls derselben Beistandsperson zu führen sind. Allenfalls ist als Beistandsperson ein (orts-)unabhängiger Fachbeistand einzusetzen.
- Eine Zuständigkeit der bisherigen Kindesschutzbehörde, welche weder am zivilrechtlichen Wohnsitz noch am Aufenthaltsort der betroffenen Kinder liegt, sieht Art. 315 ZGB nicht vor.
- Die Anwendbarkeit der erwachsenenschutzrechtlichen Bestimmung von Art. 442 Abs. 5 ZGB i.V.m. Art. 314 ZGB im Kindesschutz ist fraglich: Einerseits unter dem Aspekt, dass über Art. 442 Abs. 5 ZGB lediglich der Zeitpunkt für die Übertragung hinausgezögert wird, und andererseits da eine weitere Zuständigkeitsregelung dem Zweck von Art. 315 ZGB nach einer einfachen und klaren Regelung der Zuständigkeiten für den Fall negativer Kompetenzkonflikte widersprechen würde[footnotes 9]. Art. 442 Abs. 5 ZGB wäre somit restriktiv anzuwenden und überdies sind wichtige Gründe nicht leichthin anzunehmen[footnotes 10].
Empfehlung zum Vorgehen[footnotes 11]
Prüfung der Zuständigkeit KESB A
- Die KESB A prüft die örtliche Zuständigkeit.
- Dazu gehört bei Übertragungsverfahren von laufenden Massnahmen auch die Überprüfung, ob noch ein Verfahren hängig ist. Ist dies der Fall, ist in der Regel mit der Übertragung der laufenden Massnahme bis zum Abschluss des Verfahrens zuzuwarten.
- Überweisung resp. Antrag an KESB B
- Gelangt die KESB A zum Schluss, dass sie für die Eröffnung des Verfahrens örtlich nicht zuständig ist oder dass alle Voraussetzungen für die Übertragung der bestehenden Massnahme erfüllt sind, stellt sie einen schriftlichen Antrag auf Übernahme des Verfahrens oder der Massnahme an die KESB B mit der Information, wer für allfällige Rückfragen bei der KESB A zuständig ist. Zusammen mit der Anfrage werden der KESB B die für die Entscheidfindung relevanten Akten übermittelt und für eine bestimmte Frist überlassen.
- Prüfung der Zuständigkeit KESB B
- Die KESB B prüft die örtliche Zuständigkeit. Kommt sie zum Schluss, dass diese gegeben ist, eröffnet sie das entsprechende Kindes- oder Erwachsenenschutzverfahren oder leitet das Verfahren zur Übernahme der Massnahme ein und informiert entsprechend die KESB A. Bestehen Unklarheiten resp. Unsicherheiten bezüglich der Sach- oder Rechtslage, ist der Meinungsaustausch gemäss Art. 444 Abs. 3 ZGB zu führen.
- Meinungsaustausch zwischen KESB A und KESB B
- Der Meinungsaustausch ist grundsätzlich schriftlich zu führen. Je nach Situation ist ein ergänzender telefonischer Austausch sinnvoll. Der Meinungsaustausch muss die beidseitige Darlegung der Standpunkte und ein Bemühen beider Seiten um eine Lösung enthalten, was schriftlich abzubilden ist[footnotes 12]. Es ist zu vermeiden, dass es zu einem endlosen Austausch der Argumente kommt, ohne eine Lösung zu finden. Der Meinungsaustausch soll sich an sachlichen Aspekten und den Interessen der hilfsbedürftigen Person ausrichten. Die beteiligten KESB sind gehalten, auf dem Weg des unbürokratischen und raschen Meinungsaustauschs, wenn immer möglich, eine Einigung zu erzielen – so auch BGE 141 III 84 E. 4.6, wo das Bundesgericht eine unformalistische Auslegung von Wohnsitzregeln postuliert.
- Uneinigkeit und Einbezug der Aufsichtsbehörde
- Wird keine Einigung gefunden – was unter allen Umständen zu vermeiden ist – schliesst KESB B den Austausch mit einem Ablehnungsschreiben an die KESB A ab. Besteht die KESB A auf einer Überweisung resp. auf der Übertragung, schaltet die KESB A ihre kantonale Aufsichtsbehörde ein und ersucht um Vermittlung.
- Die Aufsichtsbehörde der KESB A versucht
- im interkantonalen Verhältnis mit der Aufsichtsbehörde der KESB B,
- im innerkantonalen Verhältnis direkt mit der KESB A und der KESB B
- den negativen Zuständigkeitskonflikt auf gütlichem Weg zu bereinigen. Die Einigung zwischen den Aufsichtsbehörden bzw. zwischen den betroffenen KESB unter Vermittlung der Aufsichtsbehörde im innerkantonalen Verhältnis muss im Interesse der Betroffenen und zur Vermeidung eines beschwerlichen Gerichtsverfahrens im Vordergrund stehen.
- Die Aufsichtsbehörden haben bei einem interkantonalen Konflikt dafür zu sorgen, dass die nach erfolgtem Meinungsaustausch und gütlicher Bereinigung von beiden Aufsichtsbehörden geteilte Auffassung bei den involvierten KESB auch umgesetzt wird.
- Kommt es trotz Einschalten der Aufsichtsbehörde(n) zu keiner Einigung oder akzeptieren die KESB A oder die KESB B die ausgehandelte Lösung der Aufsichtsbehörde(n) nicht, ist als letzter Schritt von der zuerst befassten Behörde das vom Gesetzgeber vorgesehene Gerichtsverfahren gestützt auf Art. 444 Abs. 4 ZGB einzuleiten. Die Einleitung eines Gerichtsverfahrens muss aber absolute Ultima Ratio sein.
- Der Entscheid der Gerichtsinstanz kann beim Bundesgericht
- im interkantonalen Verhältnis vom Kanton gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. b BGG und
- im innerkantonalen Verhältnis sowohl von der KESB A wie auch der KESB B gestützt auf Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG angefochten werden. Im innerkantonalen Verhältnis jedoch nur sofern ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung des Entscheides vorliegt (Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG)[footnotes 13].
- Abschluss
- Ist die örtliche Zuständigkeit geklärt, ist
- das Verfahren dort zu führen und abzuschliessen, oder
- die laufende Massnahme am bisherigen Ort weiterzuführen, oder
- die laufende Massnahme zur Weiterführung zu übernehmen.
Fussnoten
- ↑ BGer 5E_1/2017 vom 31.08.2017, E. 5.
- ↑ BGE 141 III 84, E. 4.7.
- ↑ Christoph Häfeli, Grundriss zum Kindes- und Erwachsenenschutz, 2. Auflage Bern 2016, Rz. 31.10; Patrick Fassbind, Erwachsenenschutz, Zürich 2012, S. 106; KUKO ZGB-Wider, Art. 442 N 16; Philippe Meier, Droit de la protection de l’adulte, Zürich 2016, N 137.
- ↑ KUKO ZGB-Wider, Art. 442 N 6.
- ↑ BGE 137 II 122, 126 E. 3.6.
- ↑ BGE 127 V 237, 241 E. 2c.
- ↑ BGE 143 II 233, 238 E. 2.5.2.
- ↑ BGE 129 I 419 E. 2.3.
- ↑ Vgl. dazu auch BGE 129 I 419 E. 2.3.
- ↑ BSK ZGB I-Vogel, Art. 422 N 22; KOKES-Praxisanleitung Erwachsenenschutz, Zürich/St. Gallen 2012, N 1.129 f.
- ↑ Zum Übernahmeverfahren allgemein: «Übernahme einer Massnahme nach Wohnsitzwechsel (Art. 442 Abs. 5 ZGB)», Empfehlungen der KOKES vom März 2015 (5-Schritte-Modell), publiziert in ZKE 2/2016, S. 167 ff.
- ↑ BGE 5E_1/2017 vom 31.08.2017, E. 5.
- ↑ BSK ZGB I-Maranta / Auer / Marti, Art. 444 N 15 f.; CHK ZGB-Steck, Art. 444 N 7 ff.
Einzelnachweise
- ↑ Empfehlung der KOKES vom September 2019