Kindeswohlgefährdung

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Kindeswohlgefährdung[1]

Grundlagen

Gesetzliche Grundlagen von niederschwelligen ­Kindesschutzmassnahmen

Die gesetzliche Grundlage für sogenannt niederschwellige Kindesschutzmassnahmen ist Art. 307 ZGB:Referenzfehler: Ungültige Verwendung von <ref>: Der Parameter „name“ ist ungültig oder zu lang.

Ist das Wohl des Kindes gefährdet und sorgen die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder sind sie dazu ausserstande, so trifft die Kindesschutzbehörde die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes (Abs. 1). Die Kindesschutzbehörde ist dazu auch gegenüber Kindern verpflichtet, die bei Pflegeeltern untergebracht sind oder sonst ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft der Eltern leben (Abs. 2). Sie kann insbesondere die Eltern, die Pflegeeltern oder das Kind ermahnen, ihnen bestimmte Weisungen für die Pflege, Erziehung oder Ausbildung erteilen und eine geeignete Person oder Stelle bestimmen, der Einblick oder Auskunft zu geben ist (Abs. 3).

Im Bereich des persönlichen Verkehrs greift ausserdem die spezialgesetzliche Grundlage von Art. 273 Abs. 2 ZGB:

Die Kindesschutzbehörde kann Eltern, Pflegeeltern oder das Kind ermahnen und ihnen Weisungen erteilen, wenn sich die Ausübung oder Nichtausübung des persönlichen Verkehrs für das Kind nachteilig auswirkt oder wenn eine Ermahnung oder eine Weisung aus anderen Gründen geboten ist.

Weitere spezialgesetzliche Normen finden sich, soweit der Schutz des Kindesvermögens betroffen ist, in Art. 318 Abs. 3 sowie in Art. 324 Abs. 1 und 2 ZGB, auf welche vorliegend nicht separat eingegangen wird.

Subsidiarität behördlicher Massnahmen

Grundsätzlich nimmt das Gesetz die Eltern bzw. die Sorgeberechtigten in die Pflicht, das Wohl ihres minderjährigen Kindes sicherzustellen.[fussnoten 1] Konkret haben sie die Pflege und Erziehung des Kindes mit Blick auf dessen Wohl zu leiten, wobei sie die eigene Handlungsfähigkeit des Kindes und dessen Meinung zu berücksichtigen und ihm seiner Reife entsprechende Freiheiten zu belassen haben.[fussnoten 2]

Es sind somit in erster Linie die Eltern, die Abhilfe zu schaffen haben, wenn eine Gefährdungssituation für ihr Kind eintritt, indem sie selber das Nötige veranlassen. Sind sie dazu nicht in der Lage, ist in einem ersten Schritt die Hilfe Dritter (freiwillig) beizuziehen. Zu diesem Zweck können auf die Gefährdungslage zugeschnittene Stellen des sogenannt freiwilligen Kindesschutzes beigezogen werden bzw. die Eltern sind an diese Stellen zu verweisen.

«Freiwilliger Kindesschutz» umfasst sämtliche Massnahmen, welche die Eltern oder sonstige unmittelbare Bezugspersonen von sich aus in Anspruch nehmen können und wollen. Dazu zählen u.a. das Angebot der Mütter- und Väterberatung, ärztliche Unterstützung, kinder- und jugendpsychiatrische Hilfe, Früh­erkennung oder auch andere Beratungsangebote von Eltern im Umgang und in der Erziehung der Kinder.[fussnoten 3]


Folglich sind behördliche Massnahmen erst dann anzuordnen, wenn der freiwillige Kindesschutz nicht in Anspruch genommen wird, gescheitert ist oder von vornherein nicht tauglich erscheint.

Kindeswohlgefährdung

Der Gesetzestext von Art. 307 Abs. 1 ZGB («ist das Wohl des Kindes gefährdet») lässt keinen Zweifel, dass auch für niederschwellige Kindesschutzmassnahmen eine Kindeswohlgefährdung vorausgesetzt wird. Es handelt sich hier allerdings um einen unbestimmten Rechtsbegriff, für welchen die Literatur zahlreiche Definitionen anbietet. Wenig zitiert ist dabei Dettenborn, welcher die Kindeswohlgefährdung als «Überforderung der Kompetenzen eines Kindes, vor allem der Kompetenzen, die ungenügende Berücksichtigung seiner Bedürfnisse in seinen Lebensbedingungen ohne negative körperliche und/oder psychische Folgen zu bewältigen» bezeichnet.[fussnoten 4]

Er bringt damit treffend zum Ausdruck, dass nicht allein eine Sachlage, sondern die individuelle Reaktion des Kindes darauf und dessen Ressourcen (wie z.B. Resilienz) in die Beurteilung einzubeziehen sind. Der deutsche Bundesgerichtshof hat den Begriff der Kindeswohlgefährdung als «eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt» präzisiert.[fussnoten 5]


Eine Beeinträchtigung des Kindeswohls muss sich folglich nicht bereits ausgewirkt haben, damit Kindesschutzmassnahmen angeordnet werden können. Sie muss jedoch im Sinne einer Prognose ernsthaft drohen und deren Eintritt muss wahrscheinlich sein. Eine rein hypothetische Gefährdung reicht nicht.[fussnoten 6]

Um eine Kindeswohlgefährdung abschliessend einschätzen zu können, ist die Definition des Gegenstückes, des Kindeswohls also, unumgänglich, denn dieses muss ausreichend gewährleistet sein. Dettenborn definiert Kindeswohl als «günstige, entwicklungsförderliche Relation von Bedürfnissen und Lebensbedingungen». Es wird dabei nicht Optimalität angestrebt, sondern es muss die Genug-Variante bestimmt werden.[fussnoten 7]

Zusammenfassend kann die Kindeswohlgefährdung im Sinne eines weiteren Vorschlags einer Definition somit als hinreichend schwere aktuelle Gefährdung, die nach Massgabe der individuellen Reaktion des Kindes darauf seine Entwicklung in der Gegenwart oder in der Zukunft in einer Weise negativ beeinflusst, die in der Folge die Genug-Variante des Kindeswohls nicht gewährleistet, bezeichnet werden.

Nicht genug betont werden kann, wie bereits erwähnt, dass auch für niederschwellige Massnahmen eine dieser Definition entsprechende Kindeswohlgefährdung zwingend vorausgesetzt wird. Was theoretisch klar ist, wird in der Praxis nicht immer so gehandhabt. Oft scheint die Versuchung gross, niederschwellige Massnahmen – gerade weil sie u.U. nicht stark in die Rechte der Betroffenen eingreifen – immer mal wieder aus «kindesschutzfremden» Gründen anzuordnen. Dies ist etwa der Fall, wenn Massnahmen lediglich einer Optimierung der Situation dienen, ohne dass die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung überschritten wäre. Auch ist zu beobachten, dass Kindesschutzmassnahmen im niederschwelligen Bereich teilweise angeordnet werden, obwohl die Eltern freiwillig z.B. ein Beratungsangebot in Anspruch nehmen. Da die Eltern in diesen Fällen selber Abhilfe schaffen, widerspricht dieses Vorgehen sowohl dem Subsidiaritäts- wie auch dem Komplementaritätsprinzip.

Anordnungen der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) werden teilweise auch nur zwecks Sicherung der Finanzierung einer Massnahme (z.B. der Kosten einer Beratung) gefordert, weil dadurch der Staat bzw. die Sozial­region oder die Gemeinde für die von der KESB verfügten Kindesschutzmassnahmen kostenpflichtig wird.

Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden haben solche Instrumentalisierungen konsequent zu unterbinden. Im Einzelfall ist sorgfältig zu prüfen, ob eine Kindeswohlgefährdung tatsächlich vorliegt und ob die Eltern nicht selber Abhilfe schaffen oder geeignete Hilfe dazu freiwillig in Anspruch nehmen. Sofern sie dies können bzw. tun, besteht schlicht keine gesetzliche Grundlage für einen behördlichen Eingriff, selbst dann nicht, wenn dieser die Situation nach Ansicht der Fachpersonen noch weiter verbessern würde.

Form und Inhalt

Ermahnungen

Ausdrücklich genannt in Art. 307 Abs. 3 ZGB wie auch in Art. 273 Abs. 2 ZGB als Form einer niederschwelligen Kindesschutzmassnahme ist die Ermahnung. Sie soll gemäss der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) ein Mittel sein, um den Angesprochenen Risiken vor Augen zu führen und sie für eine entsprechende Verhaltensänderung zu gewinnen. Als Beispiele werden u.a. die Ermahnungen genannt, mit den Organen der Schule zusammenzuarbeiten oder wertverachtende Bemerkungen über die Kultur des anderen Elternteils zu unterlassen.[fussnoten 8]

Durch die Ermahnung soll nach Henkel primär ein psychologischer Effekt erzielt werden; es soll behördliche Präsenz und Interventionswille bekundet werden, sollte die Ermahnung ohne positive Wirkung bleiben.[fussnoten 9] Dazu ist gestützt auf die Erfahrung aus der Praxis der KESB und die Haltung der Schreibenden festzuhalten, dass Interventionen rein der behördlichen Präsenz willen, sozusagen als nicht justiziable Drohkulisse, methodisch eher fragwürdig erscheinen. Auf eine solche Drohkulisse bleibt die Ermahnung denn auch tatsächlich beschränkt, wie die nachstehenden Ausführungen aufzeigen:

Da es sich bei der Ermahnung um eine formelle Kindesschutzmassnahme handelt, ist eine Kindeswohlgefährdung vorausgesetzt.[fussnoten 10] Dass bei Übertreten dieser relativ hohen Schwelle hin zu einer Kindeswohlgefährdung im definierten Sinn am Ende eine unverbindliche Ermahnung in Form eines blossen Hinweisens auf eine Verhaltensveränderung genügen soll, ist an sich bereits ein Widerspruch. Eine Ermahnung als geeignete und verhältnismässige Massnahme gegen eine Gefährdung zu erachten würde bedingen, dass am Ende eines Kindesschutzverfahrens, also nach vollständiger Abklärung des Sachverhaltes und nach durchgeführten Anhörungen, im Einzelfall der Schluss gezogen werden könnte, die Eltern würden lediglich durch Hinweis auf ein bestimmtes Verhalten, also lediglich durch eine unverbindliche Aufforderung, selbst das Nötige vorkehren. Dies wohlverstanden, nachdem sie offenbar im gesamten Verlauf des Verfahrens genau dazu eben nicht bereit waren. Denn innerhalb eines Kindesschutzverfahrens muss die Frage, ob Eltern bereit sind, selber Abhilfe zu schaffen, im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung entscheidender Bestandteil jeder Abklärung sein.

Allenfalls wäre an dieser Stelle einzuwenden, aufgrund eines ambivalenten Verhaltens der Eltern sei oft unsicher, ob deren Zusicherung, Abhilfe zu schaffen, auch in geeigneter Weise umgesetzt werden könne. Eine Abgrenzung von Situationen aber, in welchen Eltern freiwillig Abhilfe schaffen oder erst auf blos­se Ermahnung hin, ist nach hier vertretener Ansicht rein theoretischer Natur und im Bereich von Prognosen und inneren Vorgängen – in welchen wir uns im Kindesschutz ohnehin bewegen – in der Praxis kaum je schlüssig begründbar. Es ist daher kaum vorstellbar, einen Anwendungsfall einer Ermahnung zu konstruieren, geschweige denn einen solchen praxistauglich umzusetzen.

Weisungen

Die Weisung, welche ebenfalls explizit in Art. 307 Abs. 3 ZGB wie auch in Art. 273 Abs. 2 ZGB genannt wird, zeichnet sich im Gegensatz zur Ermahnung durch eine verbindliche Anordnung aus. Es wird jeweils ein konkretes Tun, Unterlassen oder Dulden behördlich verfügt.[fussnoten 11]

Erziehungsaufsicht

Mit Erziehungsaufsicht ist die in Art. 307 Abs. 3 ZGB beschriebene «Bezeichnung einer geeigneten Person oder Stelle, der Einblick und Auskunft zu geben ist» gemeint. Damit hat die KESB die Möglichkeit, die elterliche Pflege und Erziehung zu begleiten und zu kontrollieren. In der Praxis wird diese Massnahme oft eingesetzt, um Weisungen, die gleichzeitig erteilt werden, zu überwachen.[fussnoten 12]

Weitere geeignete Massnahmen im Sinne von Art. 307 Abs. 1 ZGB

Die Formulierung «insbesondere» in Art. 307 Abs. 3 ZGB lässt darauf schlies­sen, dass weitere Interventionen im Sinne von Art. 307 Abs. 1 ZGB denkbar sind. Die Kindesschutzbehörde wird dem Wortlaut nach in ganz allgemeiner Weise ermächtigt, «geeignete Massnahmen zum Schutz des Kindes» zu erlassen.

Die KOKES meint dazu in ihrer Praxisanleitung, die KESB habe einen grossen Gestaltungsspielraum, im Einzelfall massgeschneiderte Massnahmen zu definieren.[fussnoten 13]

Unter diese Massnahmen fallen nach Affolter und Vogel u.a. direkte Anordnungen der KESB anstelle der Eltern wie z.B. die Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung, die Beauftragung einer Drittperson oder die Möglichkeit, einzelne Entscheidbefugnisse einem Elternteil allein zu überlassen bei gemeinsamer elterlicher Sorge.[fussnoten 14] Die KOKES führt in ihrer Praxisanleitung aus, Vorkehrungen, welche im Erwachsenenschutzrecht unter Art. 392 ZGB fallen würden (z.B. eigenes Handeln der KESB), fänden in Art. 307 ZGB ein Pendant.[fussnoten 15]

Alle genannten Anwendungsfälle sind nach hier vertretener Ansicht nicht unter Art. 307 Abs. 1 ZGB zu subsumieren. Auch diese gesetzliche Grundlage scheint daher – trotz allgemeiner Formulierung – wenig praxisrelevant. Bei den meisten Anordnungen im niederschwelligen Bereich handelt es sich inhaltlich um Weisungen im Sinne von Art. 307 Abs. 3 ZGB, da ungeachtet der Formulierung im Ergebnis letztlich ein Tun, Unterlassen oder Dulden der Adressaten verlangt wird. Handelt die KESB anstelle der Eltern direkt, ist dies seit dem Inkrafttreten des neuen Erwachsenenschutzrechtes bereits gestützt auf die konkretere gesetzliche Grundlage von Art. 392 i.V.m. 314 Abs. 1 ZGB möglich, was auch Affolter und Vogel festhalten.[fussnoten 16] Entzieht die KESB einem Elternteil Entscheidbefugnisse, greift sie in das Sorgerecht dieses Elternteils ein. Dieser Eingriff kann aber nicht mehr als «niederschwellig» bezeichnet werden. Eine solche Massnahme hat daher gestützt auf Art. 308 Abs. 3 ZGB als spezialgesetzliche Regelung für die Einschränkung der elterlichen Sorge zu erfolgen, selbst wenn die Befugnisse dann nicht – wie in genannter Bestimmung vorgesehen – einer Beistandsperson, sondern dem anderen Elternteil übertragen werden. Dies muss de maiore ad minus bereits gestützt auf das Subsidiaritätsprinzip[fussnoten 17] möglich sein.

Adressaten

In der Praxis stellt sich immer wieder die Frage, wer mit niederschwelligen Kindesschutzmassnahmen in die Pflicht genommen werden kann. Explizit erwähnt sind im Gesetzestext die Eltern, das Kind und die Pflegeeltern,[fussnoten 18] welche somit zweifellos Adressaten sein können. Nun kommt es aber in der Praxis nicht selten vor, dass «Dritte» das Wohl des Kindes gefährden, seien es beispielsweise Kollegen einer Jugendlichen oder der neue Partner einer Mutter, etc. Für die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen gegenüber diesen Personen fehlt eine explizite gesetzliche Grundlage, weshalb sich behördliche Anordnungen grundsätzlich nicht an Dritte richten können.

Diese Ansicht findet auch im Lichte von Art. 296 und Art. 301 ZGB Bestätigung, wonach den Sorgeberechtigten die Pflicht zukommt, das Kind in angemessener Weise vor Gefährdungen zu schützen.[fussnoten 19] Der dort verankerte Grundsatz muss auch gelten, wenn die Gefährdung von Dritten ausgeht. Die Anordnung der Behörde hat sich bei fehlender Abhilfe durch die Eltern somit auch in Fällen, in denen die Gefährdung von Dritten ausgeht, direkt an die Eltern (oder an die Pflegeeltern oder das Kind selber) zu richten. Die Anordnungen haben zu beschreiben, welche Schritte von den Eltern in die Wege zu leiten sind, um die Gefährdung zu beheben.

Affolter und Vogel erwähnen in diesem Zusammenhang zu Recht, dass hingegen Stiefeltern gestützt auf ihre Beistands- und Vertretungspflicht gegenüber dem Ehegatten und Elternteil, welche in Art. 299 ZGB explizit eine Grundlage findet, im Gegensatz zu den «übrigen Dritten» selbstredend Adressaten von niederschwelligen Kindesschutzmassnahmen sein können.[fussnoten 20]

Ebenfalls ist der dort vertretenen Auffassung beizupflichten, dass Dritte dann ausnahmsweise Adressaten von behördlichen Anordnungen werden können, wenn die Beziehungsgestaltung zwischen einem Dritten und dem Kind in den Kompetenzbereich der KESB fällt, wie dies bei der Regelung des persönlichen Verkehrs zu einem Dritten nach Art. 274a ZGB der Fall ist.[fussnoten 21]

Grenzen

Allgemeiner Grundsatz

Kindesschutzmassnahmen allgemein müssen als behördliche Eingriffe den Vor­aussetzungen von Art. 5 bzw. 36 BV23 genügen: Sie bedürfen einer gesetz­lichen Grundlage, eines öffentlichen Interesses und müssen verhältnismässig sein. Ausfluss der Verhältnismässigkeit sind die im Kindesschutzrecht besonders massgebenden Prinzipien der Komplementarität und der Subsidiarität.[fussnoten 22]

Staatliche Massnahmen sollen somit nicht an Stelle elterlicher Bemühungen treten, sondern lediglich elterliche Defizite kompensieren.[fussnoten 23]

Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit besagt, dass jeder Eingriff geeignet sein muss, der ermittelten Kindeswohlgefährdung entgegenzuwirken. Zudem muss der Eingriff erforderlich sein. Gleich geeignete, aber mildere Alternativen haben Vorrang. Zur Verhältnismässigkeitsprüfung gehört ausserdem die Zumutbarkeit. Es ist abzuwägen, ob der Eingriffszweck und die Eingriffswirkung einer Massnahme in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.[fussnoten 24]

Inhalt und Grenzen von niederschwelligen ­Kindesschutzmass­nahmen

Art. 307 ZGB ist bei wörtlicher Auslegung offen und enthält thematisch keine Einschränkungen. Der Gesetzgeber wollte den Behörden damit bewusst einen grossen Ermessensspielraum geben, das «Nötige» anzuordnen.27 Wie bereits ausgeführt, findet diese Norm in der Praxis v.a. in der Form von Weisungen Anwendung.[fussnoten 25] Gerade ihre Unbestimmtheit soll bei deren Ausgestaltung zu einer gewissen Kreativität einladen. Für alle denkbaren Interventionen kann sie somit im Einzelfall hinreichende Rechtsgrundlage bilden. Häufige Beispiele aus der Praxis sind die Anordnung von sozialpädagogischen Familienbegleitungen, die Weisung, das Kind fremdbetreuen zu lassen, eine Beratungsstelle (z.B. Mütter-Väter-Beratung) zu besuchen, einen Elternkurs zu absolvieren, etc.[fussnoten 26] Es sind unter diesem Titel sehr vielfältige und massgeschneiderte Eingriffe möglich, welche es erlauben, ganz konkret einzelfallgerechte Massnahmen anzuordnen, was durchaus als Chance für die Herstellung des Kindeswohls gewertet werden muss.

Fraglich ist, ob Art. 307 ZGB als gesetzliche Grundlage genügen kann bei Eingriffen, die letztlich unter dem Titel des Kindesschutzes in die höchstpersönlichen Rechte der Eltern eingreifen. Bekanntlich muss nach dem vorstehend[fussnoten 27] beschriebenen Grundsatz die gesetzliche Grundlage umso konkreter sein, je stärker der Eingriff in die Rechte ist. In Bezug auf die Normdichte ist festzuhalten, dass schwere Eingriffe in jedem Fall einer klaren und ausdrücklichen Grundlage auf Gesetzesebene bedürfen.[fussnoten 28]

Klar unzulässig sind daher Weisungen, ein Kind zu platzieren, da es sich unbestritten um einen zu starken Eingriff handelt. Diese Massnahme ist denn auch durch die spezialgesetzliche Norm von Art. 310 ZGB abschliessend geregelt, deren (strengere) Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um die Fremdplatzierung eines Kindes zu rechtfertigen. Daraus ist zu schliessen, dass auch andere schwere Eingriffe eine konkretere gesetzliche Grundlage voraussetzen, als sie Art. 307 ZGB zu bieten vermag.

Der Wirkungskreis von Art. 307 ZGB muss folglich, obwohl bzw. gerade weil er unbestimmt formuliert ist, begrenzt sein. Gemäss Bundesgericht hat die Massnahme sich ausschliesslich am Kindeswohl zu orientieren und nicht an persönlichen Befindlichkeiten der Eltern.[fussnoten 29] Art. 307 Abs. 3 ZGB wird in diesem Zusammenhang als genügend bestimmte gesetzliche Grundlage für die Anordnung einer Gesprächstherapie verstanden. Es gehe um die Motivierung der Eltern, dem Kind die zweckmässige Unterstützung zukommen zu lassen. Übereinstimmend dazu erlaubt die bundesgerichtliche Rechtsprechung gestützt auf Art. 307 Abs. 3 und 273 Abs. 2 ZGB auch die Weisung an die Eltern, eine Mediation im Zusammenhang mit der Ausübung des Besuchsrechts wahrzunehmen.[fussnoten 30] Damit ist eine Gesprächstherapie gemeint mit dem Ziel, die Kommunikation zwischen den Eltern zu verbessern. Das Bundesgericht zitiert dabei Peter und erklärt, die angeordnete Mediation unterscheide sich von der freiwilligen «in der konsequenten Orientierung an den Interessen und Rechten der Kinder», indem die hochstrittigen Eltern mit den Bedürfnissen ihrer Kinder konfrontiert würden.[fussnoten 31] Das Bundesgericht hatte auch über eine Weisung an einen Elternteil zu befinden, sich «in eine Therapie bei einer in Eltern-Kind-Entfremdungssymptomatik versierten Fachperson zu begeben» und diese Weisung als gestützt auf Art. 307 Abs. 3 und 273 ZGB konform bezeichnet.[fussnoten 32]

Gemeinsam ist diesen Weisungen, dass die damit verbundenen Interventionen stets das Kind betreffen, selbst wenn die Eltern Adressaten der Weisung sind. Wider und Pfister-Wiederkehr drücken es so aus: nicht der Konflikt zwischen den Eltern, sondern die daraus entstehenden Probleme für das Kind sollen mit diesen Interventionen gelöst werden.[fussnoten 33] Dahingehend äussert sich in jüngerer Zeit auch das Bundesgericht: Ziel einer Anordnung sei nicht, den Eltern zu helfen, wieder eine Lebensgemeinschaft zu werden, sondern sie soweit zu einem Zusammenwirken zu bewegen, um Schaden für die Kinder abzuwenden.[fussnoten 34] Noch nicht entschieden hat das Bundesgericht, wie weit mit solchen Weisungen die persönliche Freiheit des betroffenen Elternteils[fussnoten 35] im Einzelnen eingeschränkt werden darf, namentlich welche Therapien zwangsweise angeordnet werden können.[fussnoten 36]

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Inhalt der bundesgerichtlich gutgeheis­senen Anordnungen durchwegs Formen von «Therapien» waren, die letztlich direkt das Verhältnis zum Kind betrafen. Nicht in diesen Bereich fallen somit e contrario Anordnungen, die z.B. die Behandlung einer psychischen Störung, eine Suchttherapie oder einen anderen medizinischen Eingriff beim Elternteil selber zum Gegenstand haben. Genau da muss nach hier vertretener Meinung die Grenze gezogen werden. Eine Weisung an einen Elternteil, einen Alkoholentzug durchzuführen, wäre demnach unzulässig, da ein höchstpersönliches Recht des Elternteils selber betroffen ist, welches nicht als direkt kausal zum Kindeswohl bezeichnet werden kann. Dies gilt umso mehr, als eine Sucht oder eine andere psychische Störung zwar nicht zu vernachlässigende Risikofaktoren darstellen, alleine aber nicht automatisch eine Kindeswohlgefährdung zur Folge haben müssen. Rosch und Hauri führen dazu treffend aus, dass Weisungen ihre Grenze in den Persönlichkeitsrechten finden. Es könne nicht Aufgabe des Staates sein, Eltern in ihrer psychischen und physischen Disposition massgeblich zu verändern. Diese Abgrenzung wird denn zu Recht als Gratwanderung bezeichnet. Grundsätzlich seien Beratungen, welche von Sozialarbeitenden vorgenommen würden, als zulässig, Therapien von Fachpersonen der Psychologie und Psychiatrie tendenziell als unzulässig zu bezeichnen.[fussnoten 37] Auch die KOKES teilt diese Meinung, indem sie darlegt, die Anordnungen müssten immer einen Bezug zur elterlichen Sorge aufweisen, also die Erziehungsarbeit betreffen. Eine Weisung an einen Elternteil, sich ärztlich behandeln zu lassen, sei somit nicht zulässig.[fussnoten 38]

Dieser Haltung ist beizupflichten, gerade auch mit Blick darauf, dass es sich bei derartigen Anordnungen im Ergebnis um Erwachsenenschutzmassnahmen handelt. Solche sind im Einzelfall durchaus prüfenswert. Für solche Massnahmen, z.B. im Bereich der ambulanten Massnahmen (Weisungen) oder der fürsorgerischen Unterbringung, sind jedoch die entsprechenden Bestimmungen des Erwachsenenschutzes anwendbar. Diese sind konkret formuliert und an strenge Voraussetzungen geknüpft bzw. können sie bei fehlender hinreichender Regelung auf kantonaler Ebene (bezüglich ambulanter Weisungen[fussnoten 39]) gar nicht zulässig angeordnet werden.

Ein Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn[fussnoten 40] geht auf den ersten Blick in eine andere Richtung: Das Gericht erachtet eine Weisung an einen Vater, welcher an einer psychischen Störung leidet, er solle seine Medikamente einnehmen und Urinproben abgeben, als zulässig. Festzuhalten ist dazu, dass diese Weisung im Zusammenhang mit dem Besuchsrecht erfolgte und eher als Bedingung formuliert wurde, damit das eingeschränkte Besuchsrecht wieder regelmässig wahrgenommen werden kann. In dieser Konstellation im Einzelfall orientiert sich die Anordnung an den Vater ohne Zweifel dennoch direkt am Kind, da dessen Sicherheit während der Besuchszeiten gewährleistet werden muss. Die Bestimmung von Art. 273 Abs. 2 ZGB bezweckt denn auch explizit die Absicherung des Kindes im Rahmen des persönlichen Verkehrs. Kommt der Elternteil der Anordnung nicht nach, kann in solchen Fällen wohl nur die Konsequenz sein, dass er das Kind nicht sehen darf in einem Zustand, in welchem er das Kind massiv gefährden würde.

Eindeutig unzulässig wäre nach Gesagtem jedoch eine von der KESB Nordbünden angeordnete Weisung an einen Elternteil, mit Hilfe eines Arztes die Vor­aussetzungen für eine ambulante Suchttherapie (ärztlich begleiteter und bestätigter Alkoholentzug) zu erfüllen und aktiv an einer ambulanten Suchttherapie in einer geeigneten Therapiestelle mitzuwirken mit derzeit unbegrenzter Therapiedauer. Zusätzlich wurden zur Kontrolle der Alkoholabstinenz regelmässige Atemtests und zweimonatliche Blutkontrollen durch einen Arzt angeordnet.

Das Kantonsgericht Graubünden hat diesen Entscheid jedoch geschützt mit der nach hier vertretener Ansicht nicht schlüssigen Begründung, der Elternteil mache die Suchttherapie weder für die Beiständin noch für die KESB, sondern für sich selbst und insbesondere für seine Kinder. Er könne damit nicht nur seinen Zustand verbessern, sondern der Beiständin und der KESB beweisen, sich auf dem Wege der Besserung zu befinden und gewillt zu sein, sein Problem entschlossen anzupacken.[fussnoten 41]

Möglich sind gemäss Lehre und Rechtsprechung hingegen Weisungen an die Eltern, ihr urteilsunfähiges Kind in ärztliche Behandlung zu geben.[fussnoten 42] Dies scheint nach Gesagtem nachvollziehbar, da es um Handlungen geht, welche die elterliche Sorge und Erziehung sowie das physische und psychische Wohlergehen des Kindes direkt betreffen, also die Eltern zu einem Tun, Unterlassen oder Dulden gegenüber dem urteilsunfähigen Kind auffordern.

Methodische Überlegungen

Die Systemtheorie

Wie alle Kindesschutzmassnahmen sollen auch die Interventionen nach Art. 307 ZGB eine Veränderung bewirken in Richtung einer Verringerung der festgestellten Kindeswohlgefährdung, bis das Kindeswohl in genügendem Masse sichergestellt ist. Dazu ist die Mitwirkung der Adressaten unabdingbar. Die Veränderung muss bei niederschwelligen Massnahmen (z.B. einer Beratung) – im Gegensatz z.B. zu Fremdplatzierungen, wo die Veränderung direkt durchsetzbar ist – letztendlich bei den Angesprochenen selbst geschehen. Die Betroffenen müssen also, sollen die Kindesschutzmassnahmen geeignet sein, in eine bestimmte Richtung (weg von der Kindeswohlgefährdung) bewegt und zur Umsetzung entsprechender Veränderungen beeinflusst werden können.

In diesem Zusammenhang ist das Wissen über die systemische Theorie sowie über deren Grundannahme des Konstruktivismus unverzichtbar. Kern der Systemtheorie ist, wie dies u.a. Bamberger ausführt, die Sichtweise auf die Person unter Einbezug des gesamten sozialen Umfeldes und der dortigen Wechselbeziehungen.[fussnoten 43] Eine Person wird also nicht einzeln, sondern in ihrem System betrachtet. Als Konstruktivismus wird stark verkürzt die Tatsache verstanden, dass unsere Wahrnehmung nicht objektiv abläuft. Vielmehr gestalten wir diese aktiv, indem wir sie mit Bedeutung versehen. Die Bedeutungen, die wir den Wahrnehmungen geben, hängen davon ab, welche Erfahrungen unser Leben bisher geprägt haben.[fussnoten 44]

Der aus der Biologie stammende Begriff der «Autopoiesis», was etwa so viel heisst wie «Selbsterzeugung» oder «Selbstorganisation», beschreibt nach Niklas Luhmann den damit zusammenhängenden Mechanismus, wonach ein System sich unabhängig von seiner Umwelt nur aus den eigenen Elementen reproduzieren kann.[fussnoten 45]

Die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela halten dazu 1987 in ihrem Werk «Der Baum der Erkenntnis» fest, dass Systeme in der Folge mit ihrer Umwelt oder mit anderen Systemen über die sogenannte «strukturelle Rückkoppelung» interagieren. Das System wählt dabei aus der Umwelt nur Elemente aus, welche seiner (systemimmanenten) Definition nach als bedeutsam zu werten sind bzw. was seiner Erhaltung dient.[fussnoten 46]


Konsequenz dieser Funktionsweise ist es, dass Menschen durch ihre Umwelt, d.h. auch durch Interventionen wie z.B. Beratungen, Therapien etc., nicht gezielt beeinflussbar sind.[fussnoten 47] In diesem Sinne kann auch die Autopoiesis als (faktische) Grenze von Kindesschutzmassnahmen verstanden werden.

Chancen im Zwangskontext

Die Wirksamkeit von Interventionen, insbesondere im niederschwelligen Bereich, hängt stark davon ab, wie gut es der KESB oder anderen Akteuren gelingt, die Beteiligten für Verbesserungs- und Veränderungsprozesse zu gewinnen.[fussnoten 48]

Mit dieser Aussage im Widerspruch steht auf den ersten Blick die vorstehend[fussnoten 49]geschilderte Autopoiesis. Da eine gezielte Beeinflussung eines Menschen dieser zufolge nicht möglich ist, könnte daraus der Schluss gezogen werden, dass niederschwellige Massnahmen ohnehin nur wirksam und damit geeignet sein können, wenn diese freiwillig in Anspruch genommen werden. In diesen Fällen bedarf es jedoch wie dargelegt[fussnoten 50] keiner Kindesschutzmassnahmen. Es besteht somit bei niederschwelligen Massnahmen immer ein sogenannter Zwangskontext. Hier setzen die Methoden der Arbeit mit sogenannten «Pflichtklienten» an.

Kähler und Zobrist erklären dazu, eine «lieb gewordene und zentrale Annahme», das sogenannte «Freiwilligenpostulat», wonach Soziale Arbeit nur im freiwilligen Rahmen sinnvoll sei, müsse revidiert werden angesichts der «sichtbar gewordenen Realität professioneller Arbeit in Zwangskontexten».[fussnoten 51]

Zentral bei der dazu geeigneten systemischen Herangehensweise ist es, zu erkunden, welche Sichtweisen die Betroffenen zum Anlass des Auftrages haben. Eine Rollenklärung in diesem Zusammenhang ist unabdingbar. Anzuknüpfen ist sodann am oft dringlichsten Interesse der Klientschaft, sich schnellstmöglich wieder aus der Situation zu befreien. So ist es beispielsweise charakteristisch für Zwangskontexte im Rahmen niederschwelliger Massnahmen, dass die Betroffenen u.U. einzig das Problem haben, dass die KESB ein Problem bei ihnen sieht. Die Wirkkraft des nicht anwesenden «Dritten» wie z.B. der KESB, kann in der Beratung von Nutzen sein. Gelingt es so, ein Arbeitsbündnis zu schliessen, ist die Grundlage geschaffen, um Ziele zu definieren, denen die Klientschaft zustimmen kann. Die fehlende Problemeinsicht und die damit verbundene fehlende Bereitschaft zur Veränderung in Zwangskontexten haben zur Folge, dass die Erarbeitung einer Motivation bereits eine erste Aufgabe darstellt. Als Methode in der Gesprächsführung ist dazu ein fragender, erkundender Gesprächsstil zu wählen. Die Rahmenbedingungen müssen dabei transparent geklärt werden. Dazu gehört auch, klarzumachen, dass «Widerstand» nicht zum Abbruch der Massnahme seitens der Beratenden führt. Das Beziehungs- und Kooperationsangebot wird stets aufrechterhalten.[fussnoten 52] Es ist jedoch festzuhalten, dass letztendlich niemandem das «Recht auf Nichtveränderung» verweigert werden kann, wenn trotz aller Bemühungen die angebotene Hilfe abgelehnt wird.[fussnoten 53]

Unter diesen Arbeitsbedingungen können niederschwellige Massnahmen somit durchaus Sinn machen. Bestenfalls gelingt es, den Rahmen und die Anforderungen (eine Genug-Variante des Kindeswohls zu gewährleisten[fussnoten 54]) klar und transparent zu kommunizieren und gleichzeitig unter Mitwirkung der Betroffenen auch im Zwangskontext eigene Lösungen aus der «Welt» bzw. dem individuellen System der Familie, zu erarbeiten.

Nach einer weiteren aus dem systemischen Denken gewonnenen Erkenntnis ist es für eine Lösungsfindung nicht zwingend nötig, dass alle Beteiligten aus dem System oder aus der Familie mitwirken. Vergleichbar mit einem Mobile verändert sich das ganze System, wenn nur eine einzige Person sich darin bewegt. Walter und Peller formulieren dazu eine Grundannahme des lösungsorientierten Ansatzes, wonach eine sogenannte «Behandlungsgruppe» sich «über diejenigen definiert, die ein gemeinsames Ziel haben» und die Therapie nicht verkompliziert werden soll durch den Versuch, Personen einzubeziehen, die dies gar nicht wollen, weil diese gegenwärtig ohnehin nicht daran interessiert sind, an einer Lösung zu arbeiten.[fussnoten 55] Konkret kann eine Anordnung also u.U. auch dann hilfreich sein, wenn z.B. nur ein Elternteil eine angewiesene Beratung in Anspruch nimmt.

Formulierung

Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung von Interventionen im Kindesschutz, insbesondere im niederschwelligen Bereich, ist u.a. deren Formulierung. Es sind dabei unbedingt die allgemeinen Grundsätze von sogenannt wohlformulierten Zielen zu beachten:

Der Auftrag muss konkret formuliert sein. Mit dem Auftrag, «das Kind altersentsprechend zu ernähren», werden Eltern kaum wissen, was konkret zu tun ist. Besser ist in konkreter Fallkonstellation z.B., die Eltern anzuhalten, das Kind nach dem Ernährungsplan des Kinderarztes zu ernähren. Es muss auch klar werden, wann der Auftrag als erfüllt gilt. Weiter muss der Auftrag positiv formuliert, auf den oder die Gefährdungsaspekte fokussiert, realistisch, überprüfbar, terminiert und in der «Sprache» der Adressaten formuliert sein. Die Formulierung muss weiter zum Ausdruck bringen, dass die Verantwortung in der Hand der Betroffenen liegt.[fussnoten 56]

Die Befugnisse allfälliger professioneller Hilfspersonen, wie z.B. bei einer Erziehungsaufsicht, richten sich ebenfalls nach dem Anordnungsbeschluss. Dieser bildet somit Auftragsgrundlage, Legitimationsbasis und -grenze des behördlichen Eingriffes. An die Auftragsformulierung sind aus all diesen Gründen hohe Anforderungen zu stellen. Es muss für die KESB, die ausführende Stelle, die Eltern und das Kind zweifels- und widerspruchsfrei geklärt sein, worin der Auftrag besteht.[fussnoten 57]

Kontrolle/Monitoring

Interventionen im niederschwelligen Bereich laufen erfahrungsgemäss Gefahr, nach deren Anordnung «in Vergessenheit zu geraten». Ist keine Fachperson involviert, welche die Massnahme koordiniert wie z.B. eine Aufsichts- oder Beistandsperson, ist nicht sichergestellt, dass eine Rückmeldung an die KESB über den Verlauf der Intervention erfolgt. In solchen Konstellationen sind deshalb bereits bei Anordnung der Massnahme Überlegungen anzustellen, wie diese im Sinne eines Monitorings begleitet werden soll. Dies ist nach hier vertretener Meinung mit Blick auf Art. 313 ZGB eh unabdingbar, weil die KESB bei veränderten Verhältnissen Massnahmen entsprechend anpassen, d.h. nicht nur verstärken, sondern wenn möglich auch wieder aufheben muss. Den Beteiligten ist das entsprechende Vorgehen zusammen mit dem Entscheid zur Kenntnis zu bringen, damit sie sich daran orientieren können.

Die KOKES führt dazu treffend aus, die Wirksamkeit von Weisungen hänge nicht zuletzt massgeblich von deren Überwachung ab.[fussnoten 58] Der daraus resultierenden Empfehlung jedoch, dafür u.U. auch eine Beistandschaft zu errichten, kann nach der hier vertretenen Ansicht nicht gefolgt werden. Eine entsprechende Aufgabenzuteilung an eine Beistandsperson ist zwar u.U. dann gerechtfertigt, wenn ohnehin bereits eine Beistandschaft mit Koordinationsaufgaben besteht. Es erscheint jedoch grundsätzlich nicht verhältnismässig, eine zusätzliche, dazu noch stärkere Kindesschutzmassnahme zu errichten, einzig mit dem Ziel, die Umsetzung einer andern Kindesschutzmassnahme zu kontrollieren. In diesen Fällen gehört es zur Aufgabe der KESB, teilweise in geringem Umfang auch operative Arbeiten zu übernehmen (z.B. Bericht einholen oder auf andere Art «im Auge behalten»). Dazu ist die KESB bereits aufgrund des geltenden Untersuchungsgrundsatzes im Zusammenhang mit der Pflicht, angeordnete Massnahmen auf ihre Aktualität zu überprüfen, gehalten.[fussnoten 59]

Vollstreckung

Entscheide werden auf Antrag oder von Amtes wegen vollstreckt. Sind im Entscheid bereits Vollstreckungsmassnahmen angeordnet worden, sind diese direkt vollstreckbar. Die mit der Vollstreckung betraute Person kann nötigenfalls polizeiliche Hilfe beanspruchen. Unmittelbare Zwangsmassnahmen sind in der Regel vorgängig anzudrohen.[fussnoten 60]

Auch bei der (zwangsweisen) Durchsetzung von Kindesschutzmassnahmen muss aber das Kindeswohl berücksichtigt werden. Wie Affolter und Vogel treffend ausführen, steht die Durchsetzung autoritativer staatlicher Macht hierbei nicht im Vordergrund. Der Raum für die Vollstreckung von Kindesschutzmassnahmen ist daher relativ gering.[fussnoten 61]

Einer zwangsweisen Vollstreckung sind in der Praxis enge Grenzen gesetzt. Es wird gerade im niederschwelligen Bereich kaum je verhältnismässig sein, eine Massnahme weiterzuführen, wenn eine minimale Kooperation der Eltern fehlt. Trotzdem hat die KESB eine gewisse Beharrlichkeit und Kreativität zu zeigen und den Eltern wiederholt ihre Verantwortung gegenüber ihren Kindern aufzuzeigen.[fussnoten 62] Ansonsten müsste man gerade im niederschwelligen Bereich die Interventionen als von Anfang an ungeeignet bezeichnen.

Ist eine Vollstreckung nötig, werden unmittelbare Zwangsmassnahmen nur zurückhaltend angewendet. In der Praxis steht der Einsatz repressiver Mittel im Vordergrund, namentlich der psychologische Zwang, wie bei der Androhung der Ungehorsamsstrafe gemäss Art. 292 StGB.[fussnoten 63] Zeigt eine angeordnete Kindesschutzmassnahme nicht den erwünschten Erfolg, drängt sich nicht zwangsläufig eine Vollstreckung auf. Vielmehr ist der fehlende Erfolg zu werten. Eine untaugliche Massnahme bringt dem Kind auch dann keinen Mehrwert, wenn man sie zwangsweise durchzusetzen versucht. Es ist daher in erster Linie zu versuchen, pädagogische, psychologische oder sozialarbeiterische Mittel einzusetzen.67 Insbesondere ist erneut auszuwerten, ob die durch die Massnahme Angesprochenen auch tatsächlich in der Lage sind, die Anordnungen umzusetzen.[fussnoten 64]

Zusammenfassende Kernaussagen

Folgende Leitsätze lassen sich aus den vorstehend erörterten Teilaspekten aus dem Bereich der niederschwelligen Kindesschutzmassnahmen insbesondere folgern:

  1. Auch bei Kindesschutzmassnahmen niederschwelliger Art muss sorgfältig geprüft werden, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Wird sie verneint, sind auch leichte Eingriffe nicht zulässig.
  2. Im Bereich der niederschwelligen Interventionen ist Kreativität gefragt. Treffender als Wider und Pfister-Wiederkehr kann man es nicht ausdrücken, indem diese anregen, sich «bei hohem Seegang», also in konflikthaften oder sonstigen schwierigen Situationen im Kindesschutz am «Kinder-Leuchtturm» zu orientieren: «Alles, was zu einer konfliktarmen Lösung für das Kind beiträgt, geht in die richtige Richtung».[fussnoten 65]
  3. Die anordnende Behörde hat gerade aufgrund dieser geforderten Kreativität sorgfältig abzuwägen, ob die herangezogene gesetzliche Grundlage für die geplante Anordnung genügt. Vermeintlich «niederschwellige» Massnahmen können ansonsten schnell äusserst einschneidend werden. Zulässig sind nur Massnahmen, die sich direkt am Kind orientieren und bei den Eltern im Bereich ihrer Aufsichts- und Erziehungspflicht angesiedelt sind.
  4. Die Autopoiesis ist zugleich Chance und Grenze von niederschwelligen Kindesschutzmassnahmen: Chance in dem Sinne, dass die Fähigkeit des Systems (die Offenheit der strukturellen Rückkoppelung) genutzt werden kann. «Beeinflussung» ist demnach auch im Zwangskontext möglich; Grenze in dem Sinne, dass nicht gezielt beeinflusst werden kann. Letztendlich entscheiden die Betroffenen, was sie aus den Massnahmen machen. Dabei ist es sinnvoll, wenn möglich den Fokus auf diejenigen zu lenken, die bereit sind, an einem Problem zu arbeiten. Bestenfalls finden die Betroffenen systemimmanente Lösungen, die selbst dem kreativsten Sozialarbeitenden nicht eingefallen wären. Schlimmstenfalls müssen jedoch stärker eingreifende Kindesschutzmassnahmen zum Zuge kommen, sollte die Gefährdung nicht in genügender Weise behoben werden können.
  5. Besonderes Augenmerk ist auf die Formulierung von niederschwelligen Massnahmen bzw. von Aufträgen im Allgemeinen zu legen. Sind sich die Betroffenen durch ungenaue Formulierungen nicht im Klaren, was von ihnen konkret erwartet wird, wird ihnen dies oft vorschnell und fälschlicherweise als mangelnde Kooperation ausgelegt. Stattdessen müssten die involvierten Fachpersonen das bestehende Kommunikationsproblem erkennen.
  6. Niederschwellige Kindesschutzmassnahmen machen nur Sinn, wenn sie auch überwacht und wo nötig angepasst oder wieder aufgehoben werden. Die KESB ist in dieser Hinsicht als anordnende Behörde in der Pflicht, eine Art Monitoring zu gewährleisten. Nötigenfalls muss sie selber diesen operativen Teil – zumindest im Sinne einer Überprüfung nach einer bestimmten Zeit – sicherstellen.
  7. Zwangsweise vollstreckbar sind niederschwellige Massnahmen in aller Regel nicht. Hingegen kann sehr wohl mit psychologischen und sozialarbeiterischen Methoden im Zwangskontext eine erfolgreiche Umsetzung gelingen.

Fussnoten

  1. Art. 296 Abs. 1 ZGB.
  2. Art. 301 Abs. 1 und 2 ZGB.
  3. Rosch & Hauri, 2016, N 990.
  4. Dettenborn, 2017, S. 57– 58.
  5. BGH FamRZ 1956, 350, zitiert nach Schmid & Meysen, 2006, S. 2 – 5.
  6. Rosch & Hauri, 2016, N 1016 – 1017.
  7. Dettenborn, 2017, S. 55
  8. KOKES, 2017, N 2.24 – 2.25.
  9. Zitiert nach Affolter & Vogel, 2016, Art. 307 ZGB N 33.
  10. Ziff. 1.3 vorne.
  11. KOKES, 2017, N 2.26 – 2.27.
  12. KOKES, 2017, N 2.35.
  13. KOKES, 2017, N 2.40.
  14. Affolter & Vogel, 2016, Art. 307 ZGB N 28 – 29.
  15. KOKES, 2017, N 2.41.
  16. Affolter & Vogel, 2016, Art. 307 ZGB N 28.
  17. Ziff. 1.2 vorne.
  18. Art. 307 Abs. 3 ZGB und Art. 273 Abs. 2 ZGB.
  19. Ziff. 1.2 vorne.
  20. Ziff. 1.2 vorne.
  21. Breitschmid, 2018, Art. 307 ZGB N 7.
  22. Fountoulakis & Rosch, 2016, N 21– 23.
  23. BGer 5A_457/2009 vom 09.12.2009 E. 4.3.
  24. Ziff. 2.4 vorne.
  25. Affolter & Vogel, 2016, Art. 307 ZGB N 36 – 54.
  26. Ziff. 4.1 vorne.
  27. BGer 5A_335/2010 vom 06.07.2010 E. 3.1.
  28. BGer 5P.316/2006 vom 10.01.2007 E. 4.2.
  29. BGer 5A_852/2011 vom 20.02.2012 E. 6.
  30. BGer 5A_457/2009 vom 09.12.2009 E. 4.3, mit Hinweis auf Peter, 2005, S. 196.
  31. BGer 5A_140/2010 vom 11.06.2010 E. 3.2.
  32. Wider & Pfister-Wiederkehr, 2016, N 825.
  33. BGer 5A_65/2017 vom 24.05.2017 E. 2.3.
  34. Art. 10 Abs. 2 BV.
  35. BGer 5A_65/2017 vom 24.05.2017 E. 2.2.
  36. Rosch & Hauri, 2016, N 1034.
  37. KOKES, 2017, N 2.40.
  38. Art. 437 ZGB.
  39. VWBES.2017.217 vom 16.08.2017.
  40. ZK1 14 52 vom 07.07.2014.
  41. BGer 5A_692/2009 vom 05.01.2010; Affolter & Vogel, 2016, Art. 307 ZGB N 39.
  42. Bamberger, 2015, S. 30.
  43. Bamberger, 2015, S. 36.
  44. Zitiert nach Kleve, 2010, S. 40.
  45. Zitiert nach Kleve, 2010, S. 42– 43.
  46. Kleve, 2010, S. 62.
  47. KOKES, 2017, N 2.21.
  48. Ziff. 5.1 vorne.
  49. Ziff. 1.2 vorne.
  50. Kähler & Zobrist, 2013, S. 68.
  51. Kähler & Zobrist, 2013, S. 88 – 92, 104, 108 –109.
  52. Kähler & Zobrist, 2013, S. 120.
  53. Ziff. 1.3 vorne.
  54. Walter & Peller, 2015, S. 52.
  55. Lüttringhaus & Streich, 2007, S. 149 –150.
  56. Affolter & Vogel, 2016, Art. 307 ZGB N 57.
  57. KOKES, 2017, N 2.29.
  58. Art. 313 ZGB.
  59. Art. 450g ZGB.
  60. Art. 450g ZGB.
  61. Fassbind, 2016, N 385.
  62. SR 311.0.
  63. SR 311.0.
  64. Wider & Pfister-Wiederkehr, 2016, N 838.

Einzelnachweise

  1. Simone Gerber, lic. iur., Vizepräsidentin Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Region Solothurn, 2019