Psychologische Gutachten im Familienrecht: Unterschied zwischen den Versionen

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(Allgemeiner Umgang mit Gutachten)
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Die Auftraggeberin prüft das Gutachten. «Ein Fehlen einzelner Merkmale muss zwar nicht zwingend zur kompletten Diskreditierung des Gutachtens führen, aber ein Abweichen sollte im Gutachten selbst (…) erklärt werden» (Alkan­Meves 2015, 1703). Stellt die Auftraggeberin Unklarheiten oder Mängel im Gutachten fest, klärt sie diese mit den Sachverständigen und fordert Nachbesserungen.
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Es ist zu beachten, dass Unzufriedenheit der Exploranden auch bei hervorragender Arbeit der Sachverständigen nicht immer vermieden werden kann. Im klassischen Sorgerechtsgutachten sind die Eltern oft schon vor dem Gutachtensauftrag hochstrittig, ein Elternteil wird i.d.R. mit dem Resultat nicht einverstanden sein. Im Kindesschutz können die Eltern bei einschneidenden Massnahmen u.U. nicht einverstanden sein. Mögliche «Strategien» der Eltern in dieser Situation können auch unlautere Mittel beinhalten, wie z.B. ein Diffamieren der Sachverständigen oder Auftraggebenden. Der Anwaltschaft kommt in solchen Kontexten eine wichtige Bedeutung zu: Bei klaren Qualitätsmängeln der Begutachtung unterstützt sie ihre Klientschaft, zu einer korrekten Beurteilung zu kommen. Bei ungerechtfertigten Angriffen spielt sie eine wesentliche Rolle in der Deeskalation. Eskalative Verläufe haben immer negative Auswirkungen auf das Wohl des Kindes. Klärungen sollen daher in Kooperation mit der Behörde gesucht werden, allenfalls über die rechtlich vorgesehenen Rekursmöglichkeiten. Der Weg über eine mediale Skandalisierung ist destruktiv (Fegert et al. 2010).
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Erfahrung ohne Rückmeldung ergibt keine Expertise und kann eine Praxis schaffen, die sich
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in Routinen erschöpft und blind wird (Ericsson 2006). Die komplexe Verknüpfung von allgemeinem evidenzbasiertem Wissen mit dem konkreten Einzelfall benötigt Rückkoppelung, denn nur so kann Wissen kontextsensitiv mit Handeln verbunden und ein prozedurales Wissen über Lösungsstrategien und Heuristiken aufgebaut werden (Aebi 2018, Baltes & Smith 1990, Baltes& Staudinger 2000). Sachverständige sollen daher Rückmeldungen einholen dürfen und diese als Elemente einer Fehlerkultur verstehen (Aebi 2018, AG Familienrechtliche Gutachten 2019, Base 2017). Damit ein effektives Feedback entsteht, müssen die folgenden Bedingungen erfüllt sein (Banse 2017): Es
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besteht Konsens darüber, was in einem Gutachten einen Mangel darstellt. Rückmeldungen sollen konstruktiv, mit dem Ziel der Verbesserung (auch institutioneller Gegebenheiten) erfolgen. Dem sollte eine Fehlerkultur zugrunde liegen, bei welcher Fehler weniger als Ausnahme, sondern als zu einer komplexen Praxis zugehörig angesehen werden. Auch eine gute Strukturqualität im Sinne einer
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guten Vernetzung und Vertrautheit der Akteure ist dabei hilfreich (AG Familienrechtliche Gutachten 2019). Kindesschutz ist nur im Miteinander und im Austausch erfolgreich möglich.
  
 
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Dr. phil Thomas Aebi, Dr. phil Jennifer Steinbach, Dr. phil Loouise Vilén (ZKE 1/2020)
 
Dr. phil Thomas Aebi, Dr. phil Jennifer Steinbach, Dr. phil Loouise Vilén (ZKE 1/2020)

Version vom 21. Juni 2020, 17:55 Uhr

Leitlinien für psychologische Gutachten im Familienrecht

Einleitung

Kindesschutzbehörden und Gerichte («Auftraggeberin») treffen Entscheidungen, wenn eine Kindeswohlgefährdung nicht anders abgewendet werden kann. Wenn die Sachkunde der Auftraggeberin dafür nicht ausreicht, werden Gutachten in Auftrag gegeben. Aus verschiedenen Gründen braucht es dafür Leitlinien1:

1. Entscheidungen auf der Grundlage von Gutachten greifen tief in die Biografie von Menschen und Familien ein.

2. Familienrechtliche Gutachten sind komplex, Leitlinien vermitteln dabei Orientierung.

3. liegt in der Natur der Sache, dass Empfehlungen der Gutachten strittig sein und auf Kritik der Beteiligten stossen können. Leitlinien geben Sicherheit und können Es deeskalierend wirken.

4. Leitlinien sind eine Basis für eine selbstreflexive Haltung und damit für eine Fehlerkultur.

5. Sie tragen, wo notwendig, zur Beurteilung der Expertentätigkeit bei.

6. Für die Schweiz fehlen verbindliche Vorgaben zu familienrechtlichen Gutachten. Während bestehende Leitlinien der APA nur für Psychologinnen gelten, beschreiben die deutschen Mindestanforderungen (AG Familienrechtliche Gutachten 2015 & 2019) und die der AFCC (2006) Anforderungen für die Sachverständigen und die Auftraggebenden.

1 Die Leitlinien werden unterstützt von der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie SKJP und der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtspsychologie SGRP.

Begriffserklärungen

Leitlinien

Ziel von Leitlinien ist es, Expertise sicherzustellen (APA 2013a). In Anlehnung an internationale Empfehlungen erhalten Leitlinien gegenüber Standards den Vorzug, weil das Feld familienrechtlicher Gutachten eine enorme Breite von Fragestellungen umfasst und komplex ist. Der Begriff «Standard»» würde suggerieren, dass es ein­fache Checklisten gibt, was nicht der Fall und kein Mangel ist: Leitlinien geben eine Richtung vor, haben aber keinen Vorrang vor der psychologischen Beurtei­lung und lassen Spielräume für die Anwendung im Einzelfall offen. Die Tatsache, dass der Begriff «Kindeswohl» ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, verweist auf diesen kontextbezogenen Charakter (Dettenborn 2017). Es geht bei Leitlinien um «konstitutive Regeln», also Regeln, die eine Tätigkeit erst ermöglichen und nicht um starre «wenn-dann Regeln» («regulative Regeln»; Searle 2015, 1479), Trotz dieser Spielräume haben Leitlinien Verbindlichkeit, weil sie Mindestanforderungen für alle familienrechtliche Gutachten definieren (AG Familienrechtliche Gutachten 2015 & 2019).

Gutachten

Ein psychologisches Gutachten ist «ein wissenschaftliches Produkt in Form eines schriftlichen (…) Berichts. Es nutzt Verfahren, die auf der Psychologie als Wissenschaft aufbauen. Diese Verfahren dienen der Sammlung und Verdichtung von Informationen über die zu begutachtende Person mit dem Ziel, eine Antwort auf eine Fragestellung des Auftraggebers zu finden» (Kubinger & Westhoff 2014, 1337). In Bezug auf familienrechtliche Begutachtung muss man ergänzen, dass auch Nachbardisziplinen einbezogen werden müssen. Weiter geht es nicht nur um Personen, sondern auch um deren Beziehungen, die familiäre Dynamik und die Kooperation mit dem Umfeld (z.B. Schule). Der systemische Aspekt ist ein Unterschied zum erwachsenenforensischen Gutachten.

Unterschieden werden zwei Arten von Gutachten: Das klassische familienrechtliche Gutachten ist entscheidungsorientiert, stellt der Auftraggeberin Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung. Die Sachverständigen sollen das erarbeiten und interpretieren, was die Auftraggeberin aus der bestehenden Faktenlage selber nicht wissen und folgern kann (Westhoff & Kluck, 2014). Davon wiederum unterschieden werden prozesslösungs- oder interventionsorientierte Gutachten (Lübbehüsen & Kolbe 2009): Nach einer ersten diagnostischen Phase wird nach Absprache mit den Exploranden und der Auftraggeberin eine Interventionsphase eingeschoben und evaluiert. Daraus ergeben sich Empfehlungen, die verfügt werden können Eine Intervention kann beispielsweise eine Beratung, ein Mediationsversuch, das Ausprobieren eines Wechselmodells, einer Besuchsregelung oder einer sozialpädagogischen Familienbegleitung sein.

Behörde: Indikation, Auftragserteilung und Rahmengebung

Stellen der Indikation

Beim Entschluss zum Gutachten sollte der Sachverhalt in groben Zügen geklärt sein (Aebi et al, 2018). Gerichte und Behörden geben Gutachten gestützt auf Art. 168 i.V.m, 295 ff. ZPO bzw. 446 Abs. 2 Z6B in Auftrag. Die ausstehende Entscheidung soll schwerwiegend sein und besonderen Sachverstand erfordern. Im Zentrum stehen komplexe Fragestellungen: Das kann individualpsychologisch und systemisch aufgefasst werden. Die Begutachtung sollte einen Erkenntnisgewinn ermöglichen (Alkan-Mewes 2015).

Mögliche Massnahmen ohne Konsens mit den Eltern oder ein drohender Rekurs sollten nicht das ausschlaggebende Kriterium für das Einholen eines Gutachtens sein. Behörden und Gerichte sollen auch in potenziell strittigen Fällen Mut zur eigenen Entscheidung haben, sofern genügend Fakten vorliegen und sie diese interpretieren können, da mit Blick auf den tiefen Versorgungsgrad mit ausgebildeten Sachverständigen und die Kosten nur unverzichtbare Gutachten erstellt werden sollten. Die Behörde prüft den Handlungsbedarf. Bei einer akuten Gefährdung müssen vorsorglich Sofortmassnahmen getroffen werden (Art. 445 ZGB), wofür eine Begutachtung aus zeitlichen Gründen ungeeignet ist. In diesen Fällen kann ein Gutachten eingeholt werden, um Anschlusslösungen zu prüfen. Ein Gutachten dient aber nie dazu, eine vorgefasste Meinung zu bestätigen - es ist ergebnisoffen, die Sachverständigen haben dazu die notwendigen Freiheiten (Zuschlag 2002).

Kommt ein Gutachten in Frage, muss die Art der Begutachtung geprüft und definiert werden Interventionsorientierte Gutachten sollten nicht erteilt werden, um einen klaren und fälligen Entscheid aufzuschieben. Es dürfen keine Interventionen versucht werden, die konträr zum Kindeswohl sind oder keine Erfolgschancen haben. Interventionsorientierte brauchen mehr Zeit als entscheidungsorientierte Gutachten. Letztere haben i.d.R. einen Zeitbedarf von 12-16 Arbeitswochen. Der Zeitbedarf soll so kurz wie möglich und so lang wie nötig vorgesehen werden. Vereinbarte Fristen sind verbindlich.

Auswahl der Sachverständigen

Im Zentrum bei der Auswahl der Sachverständigen steht das Kriterium des besonderen Sachverstandes. Leitend für die Auswahl sind zunächst formelle Aspekte (Goldmann 2011):

1. Die Arbeit der Sachverständigen gründet sich auf Wissenschaftlichkeit: «Evidenzbasierung fordert die systematische Begründung und Integration möglichst aller empirischer Befunde aus hochwertiger Forschung, wenn eine Fragestellung beantwortet werden soll» (Döring et al, 2014). In Bezug auf familienrechtliche Gutachten sind wissenschaftlich fundierte Kenntnisse aus den folgenden Bereichen unverzichtbar (u.a. Dahle Volbert 2005, Salzgeber 2018, Volbert et & al, 2019): Entwicklungspsychologie und -psychopathologie, Familienpsychologie, Pädagogik und pädagogische Psychologie, Schutz- und Risikofaktorenforschung, Scheidungsforschung, Elemente forensischer Psychologie und Schulpsychologie (und generell Kenntnis von Institutionen der Lebenswelt von Kindern und Familien). Das setzt einen Abschluss in Psychologie auf Stufe Master oder evtl. höher voraus. Zudem sind rechtliche Kenntnisse notwendig.

2. Eine gründliche wissenschaftliche Sozialisation stellt nicht nur den Wissenskanon sicher («wissen, dass», propositionales Wissen; Brende4 2012). Sie gewährleistet auch einen reflektierten Umgang mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Arbeit, denn Evidenzbasierung ist nicht immer evident (Döring et al. 2014; Bellmann & Müller 2011): Sachverständige beurteilen wissenschaftliche Befunde auch kritisch, z.B. aufgrund der Qualität des Forschungsdesigns, Gütekriterien und Evidenzklassen für Studienbefunde (Döring et al. 2014). Auch können sie wissenschaftliche Neuerungen beurteilen (Goldman 2011). Wissenschaft wird im (wissenschafts)geschichtlichen Kontext verstanden und ist prospektiv gesehen dynamisch.

3. Auch aus einem anderen Grund ist Evidenzbasierung nicht immer evident Sachverständige müssen auch abschätzen, was wissenschaftliche Erkenntnisse für den Einzelfall bedeuten, da empirische Befunde statistischer Natur sind, der Einzelfall sich aber immer auf einen spezifischen Kontext bezieht. Sie leisten anspruchsvolle «Übersetzungsarbeit» von proportionalem Wissen in konkret am Einzelfall zu prüfenden Fragen und generieren entsprechende Hypothesen (Salzgeber 2018). Sie schliessen die Lücke zwischen nomothetischer Wissenschaft und idiographischem Einzelfall

4. Zusätzlich braucht es fundierte Fertigkeiten («wissen, wie», prozedurales Wissen; Brendel 2012). So u.a. in Psychodiagnostik, Psychologie der Gesprächsführung (Nichaus et al, 2017) und Entscheidungspsychologie (Pfister et al.2017). Dafür braucht es ein langjähriges Training in einer anerkannten Institution (vornehmlich Kinder- und jugendpsychologischer oder familienpsychologischer Ausrichtung) mit berufsbegleitender Weiterbildung, Supervision und Intervision. Dabei werden wissenschaftliche Grundkenntnisse und das praktische Hand­ werkszeug (diagnostische Verfahren, Gesprächsführung etc.) gelernt, integriert und verfeinert. Ergänzend müssen in analoger Weise rechtspsychologische Kompetenzen aufgebaut worden sein (AG Familienrechtliche Gutachten 2019).

Formulieren von Fragen, Erteilen des Auftrags

Die Auftraggeberin klärt mit den Sachverständigen die folgenden Fragen: Austausch über die Indikation und Art des Gutachtens, Fragenkatalog, zeitliche Verfügbarkeit und Fristen, Unbefangenheit, Kostenrahmen und Fragen der Bring- und Holverantwortungen der Akteure während der Begutachtung (AG Familienrechtliche Gutachten 2015 & 2019). Die Rechtserheblichkeit der Fragen wird von der juristischen Auftraggeberin beurteilt, diese muss alle wesentlichen Fragen stellen (Bühler 2007).

Es gibt keinen Standardfragenkatalog: Die Fragen richten sich nach dem Einzelfall und werden in Absprache mit den Sachverständigen formuliert. Es werden nur für die Lösung notwendige Fragen gestellt. Dabei wird ein mittlerer Abstraktionsgrad eingehalten: Sie sind konkret genug, um die Fragestellung zu umreissen und abstrakt genug, um den Sachverständigen keine Einschränkungen aufzuerlegen." Alle Fragen entsprechen der Fachkompetenz der Beauftragten. Es besteht ein Auftrag ohne Widersprüche, der Zweck des Gutachtens wird deutlich (Zuschlag 2002 konkrete Fragen: AG Familienrechtliche Gutachten 2015).

Die Eltern werden zum Auftrag angehört. Dieser wird unter Berücksichtigung der Ergebnisse schriftlich erteilt, es sind alle Modalitäten ersichtlich (Zuschlag 2002). Die Sachverständigen werden auf Straffolgen bei falschem Gutachten hingewiesen (Art. 307 StGB). Es wird ihnen mit der Auftragserteilung volle Akteneinsieht gewährt. Sie bestätigen den Auftrag und die Modalitäten schriftlich.

Rahmengebung durch die Auftraggeberin

Transparenz gegenüber den Eltern schafft einen tragfähigen Rahmen für die Arbeit der Sachverständigen (Alkan-Mewes 2015) Anlass und Zweck der Begutachtung. die Fragestellung, die Sachverständigen und deren Stellung. Fristen etc. werden mit ihnen in der Anhörung besprochen. Die Eltern werden über ihre Mitwirkungspflichten informiert (Art. 448 ZGB Verpflichtung zu Terminen, Gesprächs- und Auskunftsbereitschaft, Gewähren von begründeten Untersuchungen und von Augenschein (z.B. Hausbesuch), Möglichkeit der Befragung von Dritten. Es kann nicht immer Zustimmung der Eltern erreicht werden: Das Kindeswohl ist leitende Maxime, die Mitwirkungspflicht kann nötigenfalls zwangsweise durchgesetzt werden (Art. 448 Abs. I ZGB).

Die Behörde kann vorsorgliche Massnahmen für die Dauer des Kindesschutzverfahrens anordnen. Für die Sachverständigen bedeutet dies meist, dass sie diese Massnahmen überprüfen oder Vorschläge zum weiteren Vorgehen machen. Superprovisorische Massnahmen können ohne vorgängige Anhörung der Eltern im Fall einer akuten, wahrscheinlich schweren Gefährdung eines Kindes angeordnet werden. wenn keine anderen Massnahmen hinreichend sind. In der Zeit der Begutachtung trägt die Auftraggeberin im Rahmen der Verfahrensleitung weiterhin die Verantwortung für die Sicherung des Kindeswohls, auch wenn Sachverständige involviert sind. Diese sollen bedenkliche Entwicklungen melden. Die Behörde kann bei Bedarf auch während der Begutachtung Massnahmen treffen, diese sollten mit den Sachverständigen abgesprochen werden.

Im Verlauf der Begutachtung steht die Auftraggeberin den Sachverständigen für Rückfragen zur Verfügung und unterstützt diese in ihrer Tätigkeit Beispiele der Unterstützung können sein: Verbindliche Aufforderung an die Eltern, ihre Mitwirkungspflicht einzuhalten, allenfalls ergänzt durch eine Strafdrohung (Art. 292 $1GB). Wichtig ist auch die Gesprächsbereitschaft für Fragen der Sicherheit oder die Prüfung von Anträgen der Sachverständigen auf Zusatzgutachten (z.B. externe aussagenpsychologische Befragung des Kindes für gerichtsverwertbare Aussagen, rechtsmedizinische Abklärungen wie z.B. Haaranalysen zur Feststellung einer Suchtproblematik)" oder erwachsenenpsychiatrische Begutachtung von Elternteilen (AG Familienpsychologische Gutachten 2019).

Trotz ihrer Verantwortung für einen guten Rahmen stellt es die Auftraggeberin den Sachverständigen frei, «wie sie ihre massgeblichen Informationen erheben und welche Gesichtspunkte sie für ihre Beantwortung und Beurteilung für relevant halten» (AG Familienrechtliche Gutachten 2015, 12). – Die Eltern klären allfällige Irritationen mit den Sachverständigen direkt. Sie können sich bei der Auftraggeberin melden, wenn ihnen diese Klärung nicht befriedigend erscheint.

Leitlinien für Sachverständige im Prozess der Begutachtung

Grundhaltung, Orientierung an berufsethischen Richtlinien und Klarheit über die Rolle

Die Sachverständigen bewegen sich in einem rechtlich verbindlichen Rahmen (z.B. EMRK UN-Kinderrechtskonvention, landesrechtliche Vorgaben). Sie halten sich an berufsethische Richtlinien, (PS 20l), welche sich auch am «Meta Code of Ethics» der Europäischen Vereinigung der Psychologenverbände (EPA 2005) orientiert, Weiter gibt es Leitlinien bezüglich der Gutachtenerstellung im Familienrecht (AFCC 2006, AG Familienrechtliche Gutachten 2015 & 2019, APA 2010, APA 2013a, APA 20136). Grundsätzlich gilt. Die Grundrechte und die Würde der Exploranden sind zu wahren, sie dürfen nicht diskriminiert werden. Zudem sind missbräuchliche Beziehungen verboten und Interessenskonflikte zu vermeiden

Es besteht Konsen, dass die Sachverständigenarbeit sich am Wohl des Kindes orientiert (Dettenborn 2017. APA 2010, APA 2013%). «Kindeswohl» ist ein Rechtsbegriff, welcher unter rechtlichen Aspekten alleine, ohne interdisziplinären Bezug, nicht vollständig erklärbar ist in der Praxis aber eine unentbehrliche Funktion erfüllt (Dettenborn, 2017). «Obwohl als Orientierungs- und Entscheidungmassstab familiengerichtlichen Handelns (…) genutzt, wird nirgends im rechtlichen Regelwerk gesagt, was unter Kindeswohl zu verstehen ist» (Dettenborn & Walte 2016,69). Dies als Gestaltungsauftrag für die Sachverständigen und als Orientierung am Einzelfall umschrieben wird (Zitelman 2001). Für Dettenborn ist das Kindeswohl «die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen» (Dettenborn 2017,51). Mit dem Begriff Relation» ist eine Deckung des Bedarfs des Kindes durch die primären Bezugspersoen gemeint, was entwicklungpsychologisch einem Passungsmodell entspricht («goodnessof-fit». Chess & Thones 2014, Zentner & Shiner 2015). Auch wird das Kind so immer als Kind in einer spezifischen Situation verstanden (Bronfenbrenner 1981. Inversini 2002). Weiter ist von einer günstigen Relation die Rede von einer Genug- und nicht einer Best-Variante (Dettenborn 207 Detenborn & Walter 2016)."Im Spiel ist also keine ideale oder statistische, sondern eine funktionale Norm. Der Verweis auf Entwicklung meint, dass diese günstige Relation nicht nur aktuell, sondern auch mittel- und längerfristig gewährleistet sein soll und sich auch auf Ziele gelingender Entwicklung bezieht (Inversini 2002 und 2011).Sachverständige orientieren sich an diesem Rahmen.

Ihnen ist zudem klar, dass sie keine beratende oder therapeutische Rolle haben: Sie sind beauftragt und legitimiert durch die Behörde und nicht durch die Klienten, sind nur dieser zu inhaltlichen Auskünften verpflichtet, Die Verpflichtung der Exploranden steht vor Freiwilligkeit und gemeinsamer Absprache. Die Sachverständigen sammeln entscheidungsorientiert und direktiv Fakten und vermischen dies nicht mit Beratung oder therapeutischen Interventionen während der Begutachtung Sie intervenieren nur, wen eine Gefährdung der beteiligten Personen möglich ist und nehmen dann Rücksprache mit der Auftraggeberin.

Verantwortung für die Auftragsklärung

Die Sachverständigen prüfen die Auftragsannahme (Kriterien s. oben; AG Familienrechtliche Gutachten 2015, Salzgeber 2018, Zuschlag 2002). Sie sind sich bewusst, dass sie das Gutachten persönlich ausführen müssen (Alkan-Mewes 2015). Sie prüfen mögliche Ablehnungsgründe: Befangenheit (vorgängige Kenntnisse, Stellungnahmen oder Handlungen; eigene Verstrickungen und Interessen im Fall), Beziehungen oder behördliche Verhältnisse (wie z.B. Vormundschaft oder Beistandschaft). Weiter sollten therapeutische Beziehungen von einem Expertenauftrag ausgenommen und geschützt werden (Alkan-Mewes 2015). Sie prüfen ihre Sachkunde, da sie nur die Leistungen erbringen dürfen, für die sie über die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen (FSP 2011, Art. 5; Salzgeber 2018). Sie prüfen ihre zeitliche Kapazität, die Begutachtung soll möglichst zeitnah und fristgerecht durchgeführt werden (APA 2010, FSP 2011, Salzgeber 2018). Stellen die Sachverständigen im Verlauf fest, dass die vereinbarte Frist nicht eingehalten werden kann, melden sie sich bei der Auftraggeberin mit begründetem Antrag auf Fristerstreckung. Die Sachverständigen erstellen keine Parteigutachten, sie nehmen nur Aufträge von entscheidungsberechtigten Instanzen an (FSP 2011). Parteigutachten gelten nicht als Beweismittel, sie sind nur Parteibehauptungen (Bühler 2007).

Vorbereitung

Die Sachverständigen bereiten sich auf den Einstieg vor, indem sie alle relevanten Akten sorgfältig studieren (Abi et al. 2018, Alkan-Mewes 2015, Salzgeber 2018). Die Kenntnis der Vorgeschichte ist unverzichtbar, um Fehler zu vermeiden (Munro 1999; Fegert et al. 2010). Die Sachverständigen machen sich ihre Hypothesen nach dieser Lektüre klar, um einen neutralen, ergebnisoffenen Zugang zu gewährleisten (APA 2010, APA 203a, Kahne man 2012; s. Urteilsbildung). Ethische Konflikte werden frühzeitig angegangen (FSP 2011, Art. 6). Die Sachverständigen planen ihr Vorgehen: Soll die Begutachtung alleine oder zu zweit durchgeführt werden? Spielt das Geschlecht der Sachverständigen eine Rolle? Sind zusätzliche Vorkehrungen notwendig! Sie erstellen einen Untersuchungsplan und einen Leitfaden für das Erstgespräch.

Erstgespräch, Einstieg in die Begutachtung

Das Erstgespräch wird i.d.R. mit den betroffenen Eltern geführt. Dabei wird mit ihnen auch der Auftrag, die Fragestellung, die unparteiliche Haltung der Sachverständigen und der geplante Ablauf transparent gemacht (z.B. FSP 2011, Art. 11 und 30; Aebi et al, 2018, Alkan-Mewes 2015). Es wird ihnen mitgeteilt, dass Datenschutz und Schweigepflicht eingehalten werden müssen (FSP 2011, Art. 15-17). Die Schweigepflicht gilt aber nicht gegenüber der Auftraggeberin, was den Exploranden offengelegt werden muss. Die Eltern werden über ihre Mitwirkungspflicht informiert, wobei das gemeinsame Ziel aller Beteiligten (das Hinwirken auf das Kindeswohl) ins Zentrum gerückt wird. Es wird geklärt, dass die aktive Teilnahme an der Begutachtung eine Partizipationsmöglichkeit für Eltern und Kind darstellt. Mit dieser transparenten Information sollen die Eltern für die Mitarbeit gewonnen werden.

Indem ein gewisses Recht auf Selbstbestimmung der Exploranden respektiert wird, wird deren Würde gewahrt (Einholen möglichst informierter Zustimmung während des Abklärungsprozesses; FSP 2011, APA 2010, APA 2013a). Die Mitgestaltung hat aber dort Grenzen, wo die Auftragserfüllung (und damit indirekt das Ziel der Sicherung des Kindeswohls) gefährdet wird. Die Sachverständigen sind diesem Ziel verpflichtet und bestimmen die fachlich nötigen und ethisch vertretbaren Vorgehensweisen, mit denen die Fragestellung angemessen beantwortet werden kann (APA 2013a, Kannegiesser & Rota 2016). Unnötige Belastungen der Exploranden, insbesondere der Kinder, müssen vermieden werden (FSP 2011, Art. 11).

Exploration

Die Exploration hat zum Ziel, eine belegbare Faktenlage zu erarbeiten. Informationen und Befunde aus unterschiedlichen Quellen und Methoden werden dafür trianguliert, d.h. mehrfach geprüft und nach Übereinstimmung oder Widersprüchen untersucht (across-check», APA 2010, APA 2013, Kannegiesser & Rotax 2016). Die Sachverständigen müssen dazu unterschiedliche Datenquellen beiziehen und kombinieren vielfältige Untersuchungsmittel (multimodales Vorgehen; AG Familienrechtliche Gutachten 2019, APA 2010). Sie führen z.B.

Gespräche mit den Eltern, den Kindern, neuen Partnern, Referenzpersonen, Personen aus dem Umfeld der Kinder (Kindergarten, Schule, Heilpädagogik, Schulsozialarbeit, Kita, Tagesmutter, Tagesschule, Spielgruppe, Jugendarbeit, etc.), Medizin und Therapie (Haus- und Kinderärztin, Psychotherapeutin), so­zialpädagogischer Familienhilfe, Beiständin. Diese Gespräche werden ergänzt durch psychologische Untersuchungen der Kinder, durch Hausbesuche und Interaktions- und Verhaltensbeobachtungen (Kannegiesser & Rota 2016).

Im Sorgerechts- oder Besuchsgutachten sorgen die Sachverständigen in der Exploration für Symmetrie bezüglich beider Elternteile (AFC 2006), d.h. Evaluationskriterien und Vorgehensweisen müssen für beide Eltern dieselben sein. Auch achten die Sachverständigen darauf, zeitnahe und alternierende Gespräche und Abklärungen mit beiden Elternteilen durchzuführen. Falls eine Abweichung nötig ist, sollte dies begründet werden.

Die Wissenschaftlichkeit der Begutachtung bezieht sich einerseits auf die zu explorierenden Inhalte. Evidenzbasierung heisst in Bezug auf Themen der Exploration; Forschungsergebnisse sind nicht geeignet, den Einzelfall zu beantworten, sondern erlauben nur Hypothesen zu formulieren» (Salzgeber 2018,50).

Die Sachverständigen übersetzen die Fragestellung in psychologische Hypothesen, operationalisieren einzelne Schritte (SP 2041) und gestalten in diesem Sinn die Exploration. Im Rahmen der Definition von Kindeswohl, welche das Kind, die Eltern und deren Passung im Fokus hat, stehen die Eltern verantwortliche primäre Bezugspersonen im Zentrum (Langeveld 2013, Klemenz 2012), elterliche Kompetenzen müssen daher umfassend untersucht werden (APA 2010, APA 2013a). Wissenschaftlichkeit bezieht sich weiter auch auf die Methodik des Vorgehens, z.l auf die Verwendung evidenzbasierter Strategen der Gesprächsführung. Diagnostik, Urteilsbildung und Entscheidungsfindung.

Die Sachverständigen untersuchen immer auch das Kind selber, bei mehreren Kindern jedes Kind einzeln (AFCC 2006). In der Gesprächsführung mit dem Kind orientieren sie sich an professionellen Vorgaben (Niehaus et. al. 2017; Roebers 2017). Sie informieren das Kind über Auftrag und Vorgehen (Aebi et al 2018) und explorieren auch die Perspektive und den Willen des Kindes (Art. 314a, ZGB, Dettenborn 2017, www.mmi.ch). Sie führen alle Untersuchungen schonend und altersgerecht durch. Sie erheben seinen Entwicklungsstand und prüfen, ob die physischen und psychosozialen Grundbedürfnisse des Kindes gedeckt sind (Brazelton & Greenspan 2002, Klemenz 2002; zur Dynamik: Grawe 1998). Die Befindlichkeit des Kindes und Auffälligkeiten bis hin zu Psychopathologien werden untersucht. Die Sachverständigen führen nach Bedarf eine klinische Anamnese durch und verwenden dazu auch Diagnosemanuale und -verfahren. Dabei werden auch fremdanamnestische Angaben eingeholt (Aebi et al. 2018) und erglänzend testtheoretisch fundierte diagnostische Verfahren verwendet. Diese «werden ökonomisch eingesetzt und sind der Fragestellung angemessen» (Alkan-Mewes 2015,170). Sie sind Hilfsmittel und können für sich allein die individuelle Beurteilung nicht ersetzen (Salzgeber 2011). Gewisse Verfahren können Antworten im Sinne einer sozialen Erwünschtheit auslösen «Ein solches Ergebnisdarf nicht als objektives Testergebnis verwendet werden, kann aber wieder um als Gesprächsbasis dienen» (Salzgeber 2011 568). Der Einsatz von spielebasierten oder projektiven Verfahren kann erwogen werden, wenn das Ergebnis nicht allein als entscheidungserheblich gewertet wird. Solche Verfahren bringen keine unbezweifelbaren Ergebnisse hervor. Der Gewinn kann nur darin bestehen, dass ihre Interpretation mit anderen, «härteren» Untersuchungsergebnissen geprüft wird. «Sie haben dabei ihren Sinn als hypothesengenerierende Verfahren» (Salzgeber 2011,569)

Die Sachverständigen setzen den Bedarf des Kindes in ein Verhältnis zu den elterlichen Kompetenzen (Chess & Thomas 2014, Zentner & Shiner 2015; APA 2010, APA 2013a) und prüfen damit immer auch Interaktionsmuster und Beziehungsdynamiken. Daher gehören Interaktionsbeobachtungen zwi schein Eltern und Kind zu jeder Begutachtung (AFCC 2006). Diese finden idealerweise in einem naturalistischen Setting (z.B. beim Hausbesuch) statt

Die Sachverständigen hinterfragen während der Exploration ihre Vorannahmen, spielen immer wieder alternative Erklärungen zu ihren Hypothesen durch (APA 2010, APA 2013a) und explorieren somit ergebnisoffen. Sie kontrollieren dabei v.a. die Bestätigungstendenz («confirmation bias»: Kahneman 2012). Sie sind verpflichtet, allen relevanten Hinweisen nachzugehen «Wurden von den Eltern oder Dritten nachvollziehbare, für die Begutachtungsfrage fachlich bedeutsame Kindeswohl relevante Bedenken vorgebracht, muss diesen diagnostisch in sinnvollem Masse nachgegangen worden sein (AG Familienrechtliche Gutachten 2015, 19). Sie explorieren nicht nur einen Ist-Zustand, sondern befassen sich auch mit der Vorgeschichte und bisherigen Lösungsversuchen.

Die Sachverständigen beachten die Grenzen ihrer eigenen Fachlichkeit (FSP 2011, EFPA 2005, Aebi et al. 2018). Stellen sich relevante Themen, welche ihre Kompetenz überschreiten beantragen die Sachverständigen bei der Auftraggeberin eine Klärung, z.B. durch eine ergänzende Begutachtung (Salzgeber 2018, Aebi et al. 2018; z.B. erwachsenenpsychiatrische Begutachtung). Nach einer Prüfung verfügt die Auftraggeberin eine solche Begutachtung bei einer unabhängigen, qualifizierten Fachperson. Dies verzögert in der Regel die Abgabefrist. Die mit einer Zusatzbegutachtung Beauftragten äussern sich nur zu den ihnen gestellten Fragen. Die Bedeutung der Resultate für die familienrechtliche Fragestellung wird von den familienrechtlichen Sachverständigen bestimmt. Stellen die Sachverständigen fest, dass die ursprüngliche Fragestellung ihres eigenen Gutachtens erweitert werden muss, nehmen sie mit der Auftraggeberin Kontakt auf.

Der Untersuchungsgang ist nachvollziehbar zu dokumentieren und gemäss Vorschrift zu archivieren (SP 2OH1, Art. 20 APA 2010, Alkan-Mewes 2015). Es ist günstig, Akteneinträge unmittelbar nach dem Gespräch zu schreiben, um Verzerrungen vorzubeugen (Warren & Woodall 1999; Gould & Martindale 2007).

Urteilsbildung

Die fundierte Exploration ist Grundlage für die Urteilsbildung. Diese hat zum Ziel, die erhobenen Daten zu einem Fallverständnis zu verdichten und die Fragen zu beantworten. Dies kann in mehreren Schritten geschehen:

1. Die Sachverständigen reflektieren ihre Haltung, prüfen dabei auch Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen und Fehlerquellen (APA 2013a). Ein Beispiel ist die Bestätigungstendenz («confirmation bass Die Neigung, Informationen zu suchen, welche eine gefasste Meinung bestätigen und widersprechende Informationen auszublenden. Daneben gibt es weitere Verzerrungen wie die Verfügbarkeitsheuristik, bei der die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nach der Zugänglichkeit beurteilt wird (z.B. leichte Informationsgewinnung, leichte Erinnerbarkeit). Oder der fundamentale Attributionsfehler, d.h. die Neigung den Einfluss dispositionaler Faktoren (z.B. Persönlichkeitseigenschaften) auf das Verhalten systematisch zu überschätzen und Kontextfaktoren wie situative Einflüsse zu unterschätzen (Kahn man 2012, Kahneman & Klein 2012, Aebi 2018). Die Sachverständigen setzen sich zudem mit ihrem Fallzugang kritisch auseinander (Reitmann & Jensen 2011, Kindler 2011). Insgesamt geht es auch um eine kritische Reflexion des Wahrheitsanspruchs (Inversini 2002).

2. Die Sachverständigen erarbeiten die Faktenlage: Nur epistemisch robuste und belegbare Fakten dürfen in die Urteilsbildung einfliessen (APA 201a). Neben der Konsistenz von Fakten über unabhängige Quellen und unterschiedliche Erhebungsmodi ist auch die Konsistenz eines Faktums über die Zeit wichtig, damit von Mustern und nicht von einmaligen Phänomenen ausgegangen werden kann. Resultate aus standardisierten psychodiagnostischen Untersuchungsverfahren und allfällig vorliegende harte Daten aus Gerichtsurteilen, Polizeirapporten, Strafregisterauszügen (rechts )medizinischen Befunden werden einbezogen. Die Sachverständigen legen sich Rechenschaft ab über offene oder nicht klärbare Aspekte. Da nicht alle Faktoren gleichwertig sind, gewichten sie diese im Licht wissenschaftlicher Erkenntnisse.

3. Die Sachverständigen gelangen zu einem Fallverständnis, indem sie die Fakten mit Blick auf das Wohl des Kindes interpretieren (APA 2010, APA 2013a). Die Orientierung am Kindeswohl als funktionaler Norm und der Bezug auf bekannte Wirkfaktoren soll gewährleisten, dass keine unzulässige Anwendung von (persönlichen) Normen der Sachverständigen stattfindet. Da in der Kindeswohldefinition von Entwicklung die Rede ist, beinhaltet die Urteilsbildung auch eine prospektive Dimension: Das Kindeswohl soll auch mittel- oder längerfristig gewährleistet sein. Kindeswohl wird zudem konkret verstanden: Die Sachverständigen beziehen sich auf alle einzelnen Personen, konkrete Beziehungsstrukturen, Dynamiken und Passungen (APA 2010, APA 2013a). Erarbeitet wird somit ein vertieftes Fallverständnis. «Pauschale Regelungsmodelle (…) verbieten sich. Sie sind für den individuellen Fall zu erarbeiten» (AG Familienrechtliche Gutachten 2015,20). Zentral ist also ein individueller Fallbezug (s. auch Fehlerforschung: Fegert et al. 2010, Munro 1999).

4. Die Sachverständigen wägen mit Bezug auf die Fragestellung Varianten ab. Es werden Massnahmen erwogen und ihre Vor- und Nachteile durchgespielt wobei (falls vorhanden) Wirksamkeitsstudien berücksichtigt werden. Wo Gefährdungen festzustellen sind, analysieren die Sachverständigen bisherige Lösungsversuche. Dies ist v.a. im Kindesschutzgutachten wichtig, weil auch die Frage beantwortet werden muss, ob ambulante Lösungen sinnvoll sind. Das Abwägen von Alternativen, bei denen bei hoher Komplexität viel auf dem Spiel steht, bezeichnet man als Risikoethik (Nida-Rümelin et al, 2012). Diese ist konsequentialistisch: Die Sachverständigen versuchen Vorteile für das Kind zu optimieren und negative Folgen zu minimieren, wobei manchmal nur schwierige Alternativen zur Verfügung stehen. Die reine Empirie («das Sein») definiert dabei aber noch kein Sollen, das wäre ein naturalistischer Fehlschluss. Es gelten kategorisch (im Sinne Kants; 1785/2016) die Maxime des Kindeswohls, weiter rechtliche Vorgaben, berufsethische Richtlinien und die Rechtspraxis (wie z.B das Gebot der Verhältnismässigkeit). Die Sachverständigen unterliegen also auch einer deontologischen Pflichtethik. Dies bedeutet keine Delegation von Verantwortung: Die Ethik gibt keine konkreten Handlungsanweisungen, sondern fordert die Handelnden auf, die relevanten Normen zu problematisieren (Pieper 2017)

Auch Erziehung als Kern familienrechtlicher Gutachten ist normativ: «Ethische Zielvorstellungen sind für eine Theorie der Erziehung unverichtbar» (Pieper 2017,129). Die Sachverständigen reflektieren dies, sie «können ihre Entscheidungen nicht delegieren; nicht an eine moralische Vorschrift, an eine Lehrmeinung, eine Autorität oder an eine formalisierte Heuristik. Sie übernehmen in jedem Fall Verantwortung (…) und machen sich und ihre Praxis sicht- und damit überprüfbar» (Aebi 2018)

5. Überprüfung: Die Sachverständigen überprüfen jedes Gutachten spätestens n der Phase der Urteilsbildung in einer Intervision oder Supervision, sodass ein Mehraugenprinzip spielt.' Dabei muss darauf geachtet werden, dass dies nicht zu einem Bestätigungsritual wird und keine Verantwortungsdiffusion entsteht (Aebi 2018, Tietze 2012). Die Sachverständigen sind gehalten, kritische Rückmeldungen offen entgegenzunehmen (EFPA 200S), dabei hilft eine Fehlerkultur ihrer Institution.

Qualitätsanforderung an das schriftliche Gutachten

Grundsätze

Der nächste Schritt ist eine qualitativ gute schriftliche Darlegung im Gutachten. Dieses muss vollständig, nachvollziehbar und schlüssig sein (Bühler 2007). Inhaltlich ist ein Gerichtsgutachten vollständig, wenn es hinsichtlich der Anknüpfungs- und Befundtatsachen sowie der Begründung der daraus gezogenen Schlussfolgerungen hinreichend Auskunft gibt» (Bühler 2007, R.6»). Die Anknüpfungstatsachen (dem Gutachten vorgegebene Tatsachen) werden alle wiedergegeben. Die Sachverständigen zeigen was sie vorgekehrt haben, um Befundtatsachen (z.BH. Ergebnisse aus Gesprächen, Untersuchungen, Augenschein, zusätzlichen Akten) zu ermitteln und stellen diese dar. Alle Fragen werden beantwortet. Dabei gilt: «Die Beantwortung einzelner Expertenfragen darf nicht als blosse Behauptung ohne faktische Grundlage und Begründung (…) erfolgen» (Bühler 2007, .9). Das Gutachten muss also widerspruchsfrei, schlüssig und nachvollziehbar sein (Bühler, 2007, Kubinger & Westhoff 2014, Kannegieser & Rotar 2016, AG Familienrechtliche Gutachten 2015, Salzgeber 2018). Nachvollziehbarkeit ist für einen fundierten Entscheid unverzichtbar, ist Grundlage für die Legitimierung gegenüber den Betroffenen und wirkt somit im besten Fall deeskalierend. Eine einvernehmliche Lösung mit den Betroffenen ist dabei ein Desiderat, aber nicht immer möglich und daher nicht zwingend, da das Kindeswohl auch ohne Konsens gewährleistet werden muss.

Gliederung und Aufbau

Das Gutachten gliedert sich in Einstieg, Sachverhalt, Darstellung von Aussagen und Befunden, darauffolgend und davon deutlich getrennt kommt ein Interpretationsteil und danach der Abschluss (Aebi et al. 2018, Alkan-Meves 2015, Salzgeber 2018, Kannegiesser & Rotax 2016, AG Familienrechtliche Gutachten 2015).-Zum Einstieg gehören: Anschrift, Datum, Nennung der Personalien und des Aktenzeichens, Anrede der auftraggebenden Person mit Funktionsbezeichnung, Abriss des Auftrags und Nennung der Fragen. Weiter eine Auflistung der Gespräche und Untersuchungen mit Datumsangaben, Nennung schriftlicher Quellen und ein Überblick über die Struktur des Gutachtens. Im folgenden Sachverhalt wird der Vorlauf geschildert, der zum Auftrag geführt hat; zudem werden relevante Anknüpfungstatsachen beschrieben.

Im nächsten Teil werden Aussagen und Befunde dargestellt, wobei alle Aussagen in der gebotenen Kürze zusammengefasst, aber ohne Auslassungen dargestellt werden. Weiter werden alle Befunde aus Untersuchungen dargestellt. Alle relevanten Akten werden zusammengefasst. Wichtig ist, dass hier keine Interpretationen vorgenommen werden (AG Familienrechtliche Gutachten 2015, Kannegiesser & Rotax 2016, Salzgeber 2011 & 2018).

Davon streng getrennt folgt der Interpretationsteil. «Die Beurteilung sollte auf den zuvor (..) aufgeführten Informationen (…) beruhen» (Abi et al, 2018, 1470). Es werden vorangehend dargestellte Befunde im Licht der Fragestellung interpretiert (APA 2010). Die Faktenlage wird herausgearbeitet und strukturiert (s Urteilsbildung). Nicht eindeutig interpretierbare Daten (z.B. aus spielbasierten Techniken, kreativen Produkten der Kinder) sind keine argumentativen Hauptbausteine, sie können bestenfalls ergänzend härtere Fakten unterstützen. Es soll nachvollziehbar ein Fallverständnis dargestellt werden. Dieses ist systemisch und multifaktoriell, so breit wie die Exploration, eine Einengung auf singuläre Faktoren verbietet sich. Die Sachverständigen stellen Szenarien dar, diskutieren Vor- und Nachteile vorgeschlagener Regelungen im Licht des Kindeswohls und wägen diese ab. Sie orientieren sich dabei im Kindesschutzgutachten an der Verhältnismässigkeit (so wenig Eingriff wie möglich, aber so viel wie notwendig). Bei ambulanten Massnahmen skizzieren sie Willigkeit und Fähigkeit der Eltern, weiter voraussichtliche Wirksamkeit und Risiken. Sie stellen Möglichkeiten einer Verlaufskontrolle dar Im Licht dieser Diskussion werden die Fragen vollständig beantwortet und weitere sachdienliche Feststellungen gemacht (Aebi et al. 2018). Die Schlussfolgerungen ergeben sich aus evidenzbasierten Gesichtspunkten und müssen konform mit ethischen Richtlinien und der geltenden Rechtsprechung sein. Aber: die «Subsumtion der Sachverständigenempfehlung unter rechtliche Kategorien (…) obliegt dem Gericht» oder der Kindesschutzbehörde (Kannegiesser & Rotax 2016, 120)

Zum Abschluss wird die Reaktion der Eltern dargestellt, falls der Inhalt des Gutachtens mit den Eltern besprochen wurde. Aus der Grussformel werden die Personalien des oder der Sachverständigen inklusive Titel und Qualifikation er­ sichtlich, das Gutachten wird von den Sachverständigen unterschrieben.

Umfang, Darstellung und Sprache

Gutachten sollen so lang wie notwendig und so kurz wie möglich sein, der Text enthält keine Wiederholungen. Der Umfang richtet sich u.a. nach der Fragestellung und der Anzahl der zu begutachtenden Kinder und erwachsenen Bezugspersonen: Die Länge umfasst id.R. 20–45 Seiten (ausgenommen sind besondere Fragestellungen).

Gutachten müssen auch von ihrer Form her nachvollziehbar sein (SP 2011): Aufbau und Struktur sind prägnant, die Darstellung des Gutachtens ist gepflegt, es enthält eine Paginierung. Gutachten sind in einem lesbaren Stil mit kurzen Sätzen abgefasst, verwenden eine verständliche Sprache. Sie verzichten möglichst auf Fachsprache oder erläutern Fachbegriffe (Aebi et al. 2018). Fremdauskünfte sind im Konjunktiv dargestellt (Aebi et al. 2018). Testdiagnostische Daten werden erklärt. Wo Kritisches mitgeteilt werden muss, wird die Würde der Betroffenen gewahrt, ohne dass Fakten abgeschwächt werden (Kobi 2003).

Literaturangaben werden in der Regel keine gemacht. Die Auswahl der Sachverständigen stellt sicher, dass diese Kenntnis der Forschungsliteratur haben und entsprechend vorgehen. Wissenschaftlichkeit beruht nicht auf Einzelbefunden, sondern auf einem breiten Korpus von anerkannten Erkenntnissen und Theorien. Daher wären einzelne Literaturangaben willkürlich. Bei speziellen Fragestellungen oder aus rhetorischen Gründen können in Einzelfallen Zitate oder Literaturangaben gemacht werden.

Empfehlungen für den Umgang mit dem Gutachten

Allgemeiner Umgang mit Gutachten

Zum Abschluss erklären die Sachverständigen i.d.R. den Exploranden das Gutachten persönlich." Dies dient der Information, ist keine Plattform für eine Abänderung der Schlussfolgerungen. Zu berücksichtigen sind Risiken bei möglichen heiklen Reaktionen (Selbst- oder Fremdgefährdung). Die Sachverständigen teilen die Reaktion der Auftraggeberin zeitnah mit. Das Gutachten wird nur der Auftraggeberin zugestellt, diese entscheidet über den Verteiler Die Sachverständigen rechnen das Gutachten ab. Die Kostennote soll den Aufwand detailliert ausweisen und nachvollziehbar machen. In der Schweiz bestehen keine verbindlichen Richtlinien und Tarife für die Abrechnung familienrechtlicher Gutachten.

Die Behörde oder das Gericht sind verpflichtet, vor ihrer Entscheidung die Eltern und die Kinder zu den vorgeschlagenen Massnahmen anzuhören. Hier können die Parteien allenfalls Ergänzungsfragen zum Gutachten beantragen (Art. 187 Abs. 4 ZPO), wobei der Entscheid über die Zulassung bei der Auftraggeberin liegt. Solche Ergänzungen sollen sparsam verlangt werden, es sollen nur rechtserhebliche Ergänzungsfragen zugelassen werden. Die Würdigung der Empfehlungen der Sachverständigen unter rechtlichen Kategorien liegt allein bei der Auftraggeberin (AG Familienrechtliche Gutachten 2015, Kannegiesser & Rotax 2016). «Ein Abweichen von einem Gutachten ist allerdings nicht ohne Vorbehalte möglich» (Aebi et al. 2018, 1462), was formell für das (Jugend)Strafverfahren gilt. Triftige Gründe für ein Abweichen müssten aber wohl auch im familienrechtlichen Kontext vorliegen, da sonst Gutachten keinen Sinn machen würden. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Positionen der Beteiligten divergieren können (APA 2013a). Auch wenn eine einvernehmliche Lösung ideal wäre, ist eine solche nicht immer zu erzielen. Angedrohte Rekurse sollten bei einer klaren Ausgangslage inhaltlich keinen Einfluss auf die Beschlüsse haben. Die Behörde soll den Einfluss der gelegentlichen medialen Skandalisierung kontrollieren (Fegert et al. 2010). Bezugspunkt ist immer das Kindeswohl.

Werden Massnahmen verfügt und umgesetzt, macht sich die entscheidende Instanz Gedanken über die Wirksamkeit. Bei ambulanten Massnahmen im Kindesschutz ist eine Verlaufskontrolle unverzichtbar. Dafür werden Massnahmen getroffen und Hol- und Meldepflichten definiert.

Umgang mit Kritik am Gutachten

Die Auftraggeberin prüft das Gutachten. «Ein Fehlen einzelner Merkmale muss zwar nicht zwingend zur kompletten Diskreditierung des Gutachtens führen, aber ein Abweichen sollte im Gutachten selbst (…) erklärt werden» (Alkan­Meves 2015, 1703). Stellt die Auftraggeberin Unklarheiten oder Mängel im Gutachten fest, klärt sie diese mit den Sachverständigen und fordert Nachbesserungen.

Es ist zu beachten, dass Unzufriedenheit der Exploranden auch bei hervorragender Arbeit der Sachverständigen nicht immer vermieden werden kann. Im klassischen Sorgerechtsgutachten sind die Eltern oft schon vor dem Gutachtensauftrag hochstrittig, ein Elternteil wird i.d.R. mit dem Resultat nicht einverstanden sein. Im Kindesschutz können die Eltern bei einschneidenden Massnahmen u.U. nicht einverstanden sein. Mögliche «Strategien» der Eltern in dieser Situation können auch unlautere Mittel beinhalten, wie z.B. ein Diffamieren der Sachverständigen oder Auftraggebenden. Der Anwaltschaft kommt in solchen Kontexten eine wichtige Bedeutung zu: Bei klaren Qualitätsmängeln der Begutachtung unterstützt sie ihre Klientschaft, zu einer korrekten Beurteilung zu kommen. Bei ungerechtfertigten Angriffen spielt sie eine wesentliche Rolle in der Deeskalation. Eskalative Verläufe haben immer negative Auswirkungen auf das Wohl des Kindes. Klärungen sollen daher in Kooperation mit der Behörde gesucht werden, allenfalls über die rechtlich vorgesehenen Rekursmöglichkeiten. Der Weg über eine mediale Skandalisierung ist destruktiv (Fegert et al. 2010).

Erfahrung ohne Rückmeldung ergibt keine Expertise und kann eine Praxis schaffen, die sich in Routinen erschöpft und blind wird (Ericsson 2006). Die komplexe Verknüpfung von allgemeinem evidenzbasiertem Wissen mit dem konkreten Einzelfall benötigt Rückkoppelung, denn nur so kann Wissen kontextsensitiv mit Handeln verbunden und ein prozedurales Wissen über Lösungsstrategien und Heuristiken aufgebaut werden (Aebi 2018, Baltes & Smith 1990, Baltes& Staudinger 2000). Sachverständige sollen daher Rückmeldungen einholen dürfen und diese als Elemente einer Fehlerkultur verstehen (Aebi 2018, AG Familienrechtliche Gutachten 2019, Base 2017). Damit ein effektives Feedback entsteht, müssen die folgenden Bedingungen erfüllt sein (Banse 2017): Es besteht Konsens darüber, was in einem Gutachten einen Mangel darstellt. Rückmeldungen sollen konstruktiv, mit dem Ziel der Verbesserung (auch institutioneller Gegebenheiten) erfolgen. Dem sollte eine Fehlerkultur zugrunde liegen, bei welcher Fehler weniger als Ausnahme, sondern als zu einer komplexen Praxis zugehörig angesehen werden. Auch eine gute Strukturqualität im Sinne einer guten Vernetzung und Vertrautheit der Akteure ist dabei hilfreich (AG Familienrechtliche Gutachten 2019). Kindesschutz ist nur im Miteinander und im Austausch erfolgreich möglich.

Quellenangabe

Dr. phil Thomas Aebi, Dr. phil Jennifer Steinbach, Dr. phil Loouise Vilén (ZKE 1/2020)